Berlinale 2018

Gold für Experimentalfilm mit viel Sex

24.02.2018
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Goldener Bär: Gewinnerin Adina Pintilie mit Juror Tom Tykwer und Festival-Chef Dieter Kosslick © Berlinale
Berlinale 2018: Die Wienerin Ruth Beckermann darf sich über den Preis für den besten Dokumentarfilm („Waldheims Walzer“) freuen. Ansonsten gilt: Auf einen durchwachsenen Wettbewerb folgte eine Preisverleihung der Überraschungen.  Der Goldene Bär der 68. Filmfestspiele von Berlin geht an „Touch Me Not“, einen Experimentalfilm der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie.  Im Kino werden wohl nur zwei der Preisträger-Filme große Wirkung erzeugen: Das Animations-Abenteuer „Isle Of Dogs – Ataris Reise“ (Regie-Preis für Wes Anderson) und eben die Polit-Doku „Waldheims Walzer“. Dass die Bären-Jury um Regisseur Tom Tykwer keinen einzigen Preis an die vier (großteils hochklassigen) Beiträge aus Deutschland vergab, löste bei Festival-Insidern viel Unverständnis aus. So blieben etwa Marie Bäumer (Romy Schneider in „3 Tage in Quiberon“) und Franz Rogowski („Transit“ und „In  den Gängen“) trotz ihrer fulminanten Rollen unbedankt.  
„Touch Me Not“: Der Siegerfilm der Berlinale gefiel nicht allen Besuchern © Berlinale

Goldener Bär und Preis für den besten Erstlingsfilm: Adina Pintilie („Touch Me Not“)

Der rumänische Wettbewerbs-Beitrag „Touch Me Not“ löste schon während der Pressevorführung große Kontroversen aus. Etliche Besucher verließen während des Screenings den Saal – die Verbliebenen spendeten teils starken Beifall. Der Erstling der Regisseurin Adina Pintilie basiert auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt zum Thema Intimität. Menschen mit und ohne Behinderung stellten sich dabei nicht nur mit Worten, sondern sehr körperlich ihren Wünschen und Ängsten. Die Umsetzung auf der Leinwand, so der offizielle Berlinale-Text: „Der Film begibt sich auf eine emotionale Expedition, um die verschiedenen Facetten von Sexualität jenseits aller Tabus auszuleuchten.“ Die expliziten Sexszenen waren die Ursache für die Proteste bei der Berlinale.
 
Silberner Bär (Großer Preis der Jury): Malgorzata Szumowska („Twarz“)
Die Regisseurin Malgorzata Szumowska erzählt in ihrer grellen und lauten Satire „Twarz“ von der größten Christus-Statue der Welt in Polen. Bei den Bauarbeiten 2010 verunglückt ein Arbeiter schwer und kann nur durch eine Gesichts-Transplantation gerettet werden. Die Folge: Viele Menschen – darunter seine Braut, seine Mutter und auch der örtliche Priester – wenden sich von dem Mann mit dem anderen Gesicht ab. „Twarz“ ist ein Film über das Verlogene im Menschen und die Bigotterie der Kirche. Das hat man schon Hunderte Male im Kino gesehen. Warum die Jury diesem Film den großen Preis zuerkannt hat, wird sie wohl nur selbst wissen. In den Kinos dürfte „Twarz“ keine großen Chancen haben.

„Isle Of Dogs“: Bill Murray holte den Regie-Preis für Wes Anderson ab © Berlinale

Silberner Bär für die beste Regie: Wes Anderson („Isle of Dogs – Ataris Reise“)
Kult-Regisseur Wes Anderson lieferte mit dem Animations-Abenteuer „Isle Of Dogs – Ataris Reise“ den Eröffnungsfilm der Berlinale 2018 – und er wurde von der Jury zu Recht mit einem Silbernen Bären bedacht. Denn „Isle Of Dogs“,  in leicht ruckelnder Stop-Motion-Technik gedreht, ist visuell ein Film zum grenzenlosen Staunen. Bill Murray, der in „Isle Of Dogs“ als Synchronsprecher zu hören ist, nahm den Preis im Berlinale-Palast für den abwesenden Wes Anderson entgegen: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal  als Hund arbeiten und dafür mit einem Bären heimkehren würde“, sagte er. Und, in Anlehnung an das berühmte Zitat von John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner.“
 
Silberner Bär für die beste Darstellerin und Silberner Bär für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet: Ana Brun und Marcelo Martinessi  („Las Herederas“)
„Las Herederas“ (übersetzt: „Die Erbinnen“) ist der erste Film aus Paraguay, der jemals den Sprung in den Berlinale-Wettbewerb schaffte – und er wurde gleich mit zwei  Preisen belohnt. Die mit dem Preis für die beste Darstellerin  ausgezeichnete Ana Brun spielt in dieser Geschichte über ein lesbisches Paar eine eher introvertierte Frau namens  Chela. Deren Leben ändert sich auf dramatische Weise, als ihre Partnerin Chiquita wegen Überschuldung ins Gefängnis muss. Chela begegnet einer neuen, jungen Frau – und entdeckt dadurch auch neue Perspektiven für ihr eigenes Leben. Der Film von Regisseur Marcelo Martinessi blickt aber nicht nur auf Privates, sondern auch auf den gesellschaftlichen Wandel  in Paraguay.
 
Silberner Bär für den besten Darsteller: Anthony Bajon für „La Prière“
Der 23-jährige Anthony Bajon, der sein Talent bisher in Filmen wie „Auguste Rodin“ oder in André Téchinés „Nos années folles“ zeigte, spielt in „La Prière“ („Das Gebet“) einen drogensüchtigen Mann nahe des Abgrunds. Um wieder Halt zu finden, schließt er sich einer christlichen Gruppe auf dem Lande an: Unter der Führung eines katholischen Priesters sollen die jugendlichen Leidensgenossen dort mit körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft und, vor allem, mit der Kraft des Gebets zurück auf den rechten Weg geführt werden. Wer  das Drama von Cédric Kahn einen christlichen Erbauungsfilm nennt, liegt nicht falsch.    

„Museo“: Gael Garcia Bernal als Kunstdieb © Berlinale

Silberner Bär für das beste Drehbuch: Manuel Alcala und Alonso Ruizpalacios („Museo“)
Die Kriminal-Groteske „Museo“ behandelt einen reichlich absurden Coup, der sich 1985 in Mexiko tatsächlich zugetragen hat. Zwei Amateur-Einbrecher schafften es damals, ins weltberühmte Nationalmuseum für Anthropologie in Mexico City einzudringen und unermesslich wertvolle Kunstschätze – darunter die Totenmaske des Maya-Königs Pakal – zu stehlen. Anschließend versuchten sie, Käufer für ihre Beute zu finden, mussten aber feststellen, dass es für solche  Unikate keinen Markt gibt. Also trugen sie die Preziosen schlussendlich wieder ins Museum zurück, wo sich einer der Diebe (gespielt von Gael Garcia Bernal) festnehmen ließ. „Museo“ könnte in Arthaus-Kreisen zum Insider-Hit werden.
 
Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: Elena Okopnaya (Production Design und Kostüme von „Dovlatov“)
Das bleiern schwere russische Drama „Dovlatov“ von Alexej German jr. breitet ein Sittenbild Anfang der 1970er Jahre aus. In intellektuellen Kreisen wird unglaublich viel geraucht und gesoffen. Gelitten natürlich auch. Im Zentrum steht der Dichter Sergei Dovlatov, der heute zu den meistgelesenen Schriftstellern Russlands gehört. In dem Film, der sich über zwei Stunden dahinschleppt, versucht Dovlatov, jemanden zu finden, der seine Werke veröffentlicht. Vergebens. Am Ende informiert eine Schrifttafel, dass der Mann niemals zu Sowjetzeiten publizieren durfte. Weshalb er Ende der 1980er Jahre nach New York ging und dort jung verstarb. Wofür mag es den Preis gegeben haben? Wenn man böse wäre, könnte man vermuten, dafür, dass „Dovlatov“ herausragend langweilig und besonders trostlos ist. In die Kinos wird dieses Werk jedenfalls niemanden außerhalb Russlands locken.

Beste Doku: Ruth Beckermann © Berlinale

Glashütte Dokumentarfilm Preis: Ruth Beckermann („Waldheims Walzer“)
Die Wiener Filmemacherin Ruth Beckermann präsentierte mit „Waldheims Walzer“ eine Doku, die ausschließlich aus Archivmaterial (zum Teil von ihr selbst gedreht) besteht. Der Film ruft die Waldheim-Affäre des Jahres 1986 in Erinnerung. Es geht also um den österreichischen Bundespräsidenten-Wahlkampf jenes Jahres, in dem der wegen seiner NS-Vergangenheit hoch umstrittene Waldheim mit dem Slogan „Jetzt erst recht“ das Rennen machte. Beckermann gestand bei der Preisverleihung, sie sei „überwältigt. Als Dokumentarfilmerin steht man selten so im Rampenlicht.“ Allerdings: „Der Wermutstropfen für mich ist, dass etwas, das vor 30 Jahren geschah, auch heute aktuell ist. Nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen westlichen Welt.“   
 
Die Preisträger
Goldener Bär für den besten Film: „Touch Me Not“ von Adina Pintilie (Rumänien)
Silberner Bär (Großer Preis der Jury): „Twarz“ von Malgorzata Szumowska (Polen)
Silberner Bär (Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet): „Las Herederas“ von Marcelo Martinessi (Paraguay)  
Silberner Bär (Beste Regie): Wes Anderson (USA) für „Isle of Dogs – Ataris Reise“
Silberner Bär (Bester Darsteller): Anthony Bajon (Frankreich) für „La Prière“ von Thomas Arslan
Silberner Bär (Beste Darstellerin): Ana Brun (Paraguay) für „Las Herederas“ von Marcelo Martinessi (Paraguay)  
Silberner Bär (Bestes Drehbuch): Manuel Alcala und Alonso Ruizpalacios (Mexiko) für „Museo“
Silberner Bär (für eine herausragende künstlerische Leistung): Elena Okopnaya (Russland) für Production Design und Kostüme von „Dovlatov“ von Alexey German jr. (Russland)
Bester Erstlings Film: „Touch Me Not“ von Adina Pintilie (Rumänien)
Glashütte Dokumentarfilm Preis: „Waldheims Walzer“ von Ruth Beckermann (Österreich)
Goldener Bär für den besten Kurzfilm: „The Men Behind The Wall“ von Ines Moldavsky (Israel)




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