Berlinale 2018

Top und Flop: Drei Filme aus dem Norden

23.02.2018
von  Gunther Baumann
„Becoming Astrid“: Eine hinreißende Geschichte über die jungen Jahre von Astrid Lindgren © Berlinale
Geschichten aus Nordeuropa  haben Hochkonjunktur. Das wird auch am Berlinale-Programm sichtbar, wo heuer ein dreiteiliges Skandinavien-Paket im Angebot ist. Alle drei Filme verdienen einen Superlativ: Das Astrid-Lindgren-Porträt „Becoming Astrid“ ist der liebenswerteste, der Kapitalismus-Reißer „Real Estate“ ist der hässlichste  und das Terror-Drama „Utoya 22. Juli“ ist der umstrittenste Film des ganzen Festivals.
„Becoming Astrid“: Alba August in der Titelrolle spielt sensationell © Berlinale

Becoming Astrid

Genre: Biografie
Regie: Pernille Fischer Christensen (Dänemark)
Star-Faktor: Die 24jährige Hauptdarstellerin Alba August ist eine Tochter des schwedischen Filmemacher-Paars Pernilla & Bille August – und sie beweist, ganz unabhängig von der familiären Prägung, sehr großes Talent
Berlinale-Premiere: In der Reihe Berlinale Special Gala
Denkt man an Astrid Lindgren (1907 – 2002), so fallen einem sofort ewige Bestseller wie „Pippi Langstrumpf“ oder „Karlsson vom Dach“ ein. Erstaunlich wenig weiß man aber über die Biografie der Kinderbuch-Titanin. Das wird durch den Film „Becoming Astrid“ nun auf charmante Art geändert.
Regisseurin Pernille Fischer Christensen konzentriert sich auf die jungen Jahre von Astrid Lindgren,  die reich waren an überraschend dramatischen Wendungen.
Zunächst begegnet man Astrid (Alba August) als Teenager-Mädchen, das es nicht leicht hat, in ihrer frömmlerisch strengen Bauernfamilie den eigenen Freiheitsdrang auszuleben. Dass ihre Tochter Talent hat, bleibt den Eltern allerdings nicht verborgen, und sie werfen ihr beruflich keine Knüppel in den Weg. Als der Provinz-Verleger Reinhold Blomberg der 18-Jährigen ein Volontariat bei seiner Zeitung, der Vimmerby Tidning, anbietet, beginnt Astrid eine Ausbildung zur Journalistin.
Dabei erweist sie sich nicht nur als hochbegabte Stilistin, sondern auch als lebenslustige junge Frau, die ihren verheirateten Chef verführt. Doch bald ist sie schwanger, und das wird zur Katastrophe. Auf Druck ihrer bigotten Eltern bringt die junge Schwedin ihren Sohn Lasse in Kopenhagen zur Welt und überlässt ihn dort in den ersten Lebensjahren einer Pflegemutter.
Diese Szenen aus den 1920er Jahren haben  rein gar nichts mit Astrid Lindgrens späterem Ruhm als Schriftstellerin zu tun (ihr erstes Buch erschien erst 1944). „Becoming Astrid“ ist ein Sozial- und Emanzipationsdrama, das bei aller inhaltlichen Schwere deshalb so luftig-beschwingt beim Zuschauer ankommt, weil die Hauptdarstellerin Alba August eine immens positive und quicklebendige Aura versprüht.
Die wiederum dürfte, so erzählt es der Film, auch typisch für Astrid Lindgren gewesen sein. Astrid wird als junge Frau mit riesengroßem Herzen porträtiert, die auch in finsteren Momenten nie ihren Mut verliert (ihren Sohn Lasse hat sie dann später, damals arm wie eine Kirchenmaus, nach Schweden zurückgeholt). Diese Astrid ist eine frühe Frauenrechtlerin, die sich in einer rundum von den Männern und von der Kirche beherrschten Welt  kämpferisch ihren eigenen Platz sichert. Und die gleichzeitig beim Geschichtenerzählen für den kleinen Lasse schon jene Phantasie erkennen lässt, die ihr später als Schriftstellerin zugute kommen wird.
Kinostart: 6. Dezember 2018
Kinochancen: Hoch – ein Pflichttermin für alle Astrid-Lindgren-Fans
Gesamteindruck: Beschwingtes Drama über die jungen Jahre einer weltberühmten Autorin
 
„The Real Estate“: Léonore Ekstrand als durchgeknallte Immobilien-Erbin © Berlinale

The Real Estate

Genre: Action-Drama
Regie: Axel Petersen  & Mans Mansson (Schweden)
Star-Faktor: Fehlanzeige
Berlinale-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Bären
Hässliche Menschen tun hässliche Dinge in einer hässlichen Geschichte über die Gier: Mit diesem Satz könnte man „The Real Estate“ zusammenfassen, den Tiefpunkt im Wettbewerb um den Goldenen Bären (wie für die Berlinale leider typisch, hat der Wettbewerb auch 2018 höchstens durchschnittliche Qualität).
Die schwedischen Regisseure Axel Petersen & Mans Mansson haben jedenfalls, der Titel „The Real Estate“ deutet es an, eine Fabel aus dem Immobilien-Wesen zusammengerührt. Eine 68-jährige Dame namens Nojet (Léonore Ekstrand) erbt von ihrem verstorbenen Vater ein großes Mietshaus, das sie gern verkaufen möchte.
Es stellt sich aber heraus, dass Nojets Halbbruder, ein Sonderling, und dessen versoffener Sohn  etliche Mieter ohne Verträge in das Haus aufgenommen haben, sodass der juristische Zustand des Bauwerks verworren und eine Weiterverwertung fast unmöglich ist. Die zunehmend zornige Erbin versucht mit immer wilderen Mitteln, die Mieter aus dem Haus zu bekommen – bis sie schließlich zur Schusswaffe greift.
Die Absicht der Filmemacher ist es vermutlich auf Missstände im Immobilien-Bereich hinzuweisen. Aber dass in diesem Teich viele Haifische schwimmen, weiß man auich ohne einen Film wie „The Real Estate“, der seine hässliche Geschichte auch noch mit hässlichen Bildern und einem hässlichen Soundtrack erzählt. Kurzum: „The Real Estate“ macht Kino zur Qual.
Kinostart: Kein Termin
Kinochancen: Verschwindend gering
Gesamteindruck: Hässlich

„Utoya 22. Juli“: (Andrea Berntzen) flüchtet vor dem Todesschützen © Berlinale

Utoya 22. Juli
Genre: Terror-Drama
Regie: Erich Poppe (Norwegen)
Star-Faktor: Die junge Hauptdarstellerin Andrea Berntzen erhielt viel Lob für ihr intensives Spiel
Berlinale-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Bären
Am 22. Juli 2011 fuhr der norwegische Rechts-Terrorist Anders Breivik, nachdem er eine Autobombe  im Regierungsviertel von Oslo gezündet hatte, auf die Insel Utoya, wo die sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens ein Jugend-Ferienlager abhielt. Bis zu seiner Festnahme 72 Minuten später schoss der Attentäter, verkleidet in einer Polizei-Uniform, wahllos auf die Feriengäste, wobei er 69 von ihnen tötete.
Das Massaker ist nun Thema des Spielfilms „Utoya 22. Juli“, den der Regisseur Erich Poppe in Echtzeit und aus einer ganz speziellen Perspektive gedreht hat: Er zeigt das Grauen und das Sterben ausschließlich aus der Sicht der Teenager, die in Todesangst um ihr Leben rennen. Der Terrorist kommt nur akustisch vor (durch das Knattern seiner Schüsse), die Exekutive überhaupt nicht.
Der schwer zu ertragende Film hat bei der Berlinale intensive Debatten ausgelöst. Während die einen lobend feststellen, dass „Utoya 22. Juli“ endlich einmal ein Film sei, der sich vor den Opfern einer Terror-Attacke verneigt, kritisieren andere, das Werk sei eine zynische Angelegenheit, die voyeuristisch das Leid der Betroffenen ausstelle.
Der Rezensent zählt sich zur zweiten Gruppe: Für mich ist „Utoya 22. Juli“ ein vollkommen sinnloser Film, der weder neue Informationen vermittelt (außer vielleicht jene, dass sich die norwegische Polizei verdammt lange nicht auf der Insel blicken ließ) noch irgendeine Form von Erkenntnisgewinn: Dass Menschen, die gezielt beschossen werden, in Panik geraten, ist wohl klar.
Die Kamera heftet sich an die Fersen einer jungen Frau namens Kaja (Andrea Berntzen), die nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihrer kleinen Schwester fürchtet. Meist läuft Kaja mit ein paar Leidensgenossen durch den Walt oder sucht in einer Kuhle Schutz, während rundherum die Schüsse knallen. So wird mit den Stilmitteln des Horror-Ulks „Blair Witch Project“ eine bitterernste Geschichte über Leben und Tod erzählt, in der man in der sicheren Position des Kinosessels den gleichen Wunsch hat wie die Protagonisten auf der Leinwand: Dass man so rasch wie möglich aus dieser Schreckens-Situation wieder herauskommt.
Kinostart: Kein Termin
Kinochancen: Schwer zu beurteilen
Gesamteindruck: Grausames Terror-Drama, das Mitleid mit den Opfern und Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Films weckt