Eva Sangiorgi über ihre Pläne für die Viennale


„Ich habe das Gefühl, dass wir vor einem starken Festival stehen“

24.08.2018
Interview:  Gunther Baumann, Matthias Greuling

Eva Sangiorgi: Der Wechsel nach Wien als „große Veränderung und große Herausforderung“ © Katharina Sartena

Von Italien über Mexiko nach Österreich: Das ist der berufliche Lebensweg der neuen Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi.  Nach ihrem Studium in Bologna übersiedelte sie  nach Mexico City, wo sie 2010 das Filmfest mit dem Titel Festival International de Cine UNAM (abgekürzt Ficunam) gründete. Schon in früheren Jahren mehrfach bei der Viennale zu Gast, entschied Eva Sangiorgi die Ausschreibung für die künstlerische Leitung des Wiener Filmfests für sich, die nach dem tragischen Tod von Langzeit-Direktor Hans Hurch notwendig geworden war. Im FilmClicks-Interview spricht die Italienerin, die vor einigen Wochen den Vierziger feierte,  über ihre Pläne für die Viennale.


FilmClicks: Frau Sangiorgi, Sie leben als neue Leiterin der Viennale jetzt seit vier Monaten in Wien. Wie fühlen sich die Stadt und das bevorstehende Festival für Sie an?
Eva Sangiorgi: Es ist sehr schwer, ein Festival zu organisieren, wenn es draußen so heiß ist (lacht),  aber da genieße ich es, bei Screenings viel Zeit in dunklen Räumen zu verbringen. Doch Spaß beiseite: Ich bin aus Mexico City nach Wien gekommen, und das bedeutet eine große Veränderung und auch eine große Herausforderung: Viel Stress, viele neue Informationen, viele neue Menschen. Doch nun, da sich der Programmierungs-Prozess für die Viennale 2018 dem Ende zuneigt, bin ich erleichtert. Und ich habe das Gefühl, dass wir vor einem starken Festival stehen.

Viennale-Chefinnen: Direktorin Eva Sangiorgi (l.) & Geschäftsführerin Eva Rotter © Viennale

Sie sind eine Italienerin, die lange in Mexiko arbeitete und die nun nach Österreich gekommen ist. Was sind die großen Unterschiede?
Ein Unterschied liegt zum Beispiel in der Tatsache,  dass ich bei der Viennale mit einem sehr erfahrenen Team arbeite. Das war bei meinem Festival in Mexico City nicht  so sehr der Fall. Ein anderer Unterschied: In Mexico City war ich auch für alle institutionellen Themen zuständig, die das Festival betrafen, während wir hier mit Eva Rotter eine kaufmännische Geschäftsführerin haben,  die sehr viel davon erledigt. Das macht es viel leichter für mich, weil ich neu in der Stadt bin. Umgekehrt ist es natürlich nicht so einfach, in einer Fremdsprache zu arbeiten.  Nach 16 Jahren in Mexiko war ich sehr firm auf Spanisch, während ich mich nun auf das Englische umgestellt habe. Und natürlich stört es mich, dass ich nicht alles verstehe, wenn rund um mich Deutsch gesprochen wird. Da fehlt mir die komplette Kontrolle. Was zum Beispiel die deutsche Version des Festival-Katalogs betrifft, muss ich den Leuten einfach vertrauen. Ich nehme zwar Deutsch-Unterricht, aber jetzt, bei der Vorbereitung meiner ersten Viennale, hat das nicht die oberste Priorität.
 
Werden Sie Ihre Eröffnungs-Rede bei der Viennale auf Deutsch halten?
Das weiß ich noch nicht. Natürlich könnte ich etwas einstudieren. Die Aussprache des Deutschen fasziniert mich sehr, und da wiederum die wienerische Sprechweise. Die deutsche Sprache hat mich schon immer interessiert, und ich nahm auch schon in Mexiko einige Deutschstunden im Goethe-Institut.
 
Ihr Vorgänger Hans Hurch war berühmt für seine sehr politischen Eröffnungs-Ansprachen mit starkem Österreich-Bezug. Gehen wir Recht in der Annahme, dass Sie diese Tradition nicht fortsetzen werden?
Ja.  Ich komme von außen nach Österreich und ich kenne auch die Reden von Hans Hurch nicht, von denen ich keine Manuskripte habe. Ich möchte aber festhalten, dass die Eröffnungen meines Ficunam-Festivals in Mexico City  durch meine Reden stets auch sehr politisch waren.

Blick zurück: Hans Hurch bei einer seiner legendären Viennale-Eröffnungsreden © Viennale

Was dürfen wir von Ihrer ersten Viennale erwarten? Werden Sie den Stil des verstorbenen Langzeit-Direktors Hans Hurch fortsetzen oder planen Sie größere Veränderungen?
Beides. Ich respektiere und ehre das Vermächtnis, das Hans Hurch der Viennale hinterlassen hat. In dem Sinne, dass die Viennale ein Festival mit einem sehr breiten Filmangebot ist, das ohne Wettbewerb präsentiert wird. Ein Festival, das berühmte Namen bringt, aber auch unbekannte Talente unterstützt, und das sich an ein großes Publikum wendet, das nicht nur aus Cinephilen besteht. All das ist mir sehr wichtig. Zugleich bin ich aber ein anderer Mensch mit einem anderen Alter und einem anderen Geschlecht als Hans Hurch. Ich habe einen anderen Blick als er, aber das gleiche Interesse am Film. Ich werde einen Schwerpunkt auf das experimentelle Kino legen und auf junge Filmemacher, die eine sehr frische Filmsprache sprechen.  Eine große Veränderung könnte die Tatsache sein, dass wir dieses Jahr die Trennung zwischen Spielfilm und Dokumentation aufheben.  Im Programm beispielsweise sind beide Metiers nicht länger durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet.  Sie firmieren beide als Feature Films, als abendfüllende Filme. Damit will ich verdeutlichen, dass Spielfilm und Dokumentation die gleiche Bedeutung haben, auch wenn das vielleicht manche Besucher provozieren mag.
 
Wollen Sie das Viennale-Publikum mit dem Programm denn provozieren?
Nein. Höchstens in dem Sinne, dass ich die Leute dazu animieren will, sich den Filmen offen zu nähern, ohne schon im Vorhinein die Unterscheidung zwischen Spielfilm und Doku zu machen.  Auch wenn mir natürlich klar ist, dass Spielfilme oft einen größeren Publikums-Appeal haben als Dokumentationen. Allerdings ist es manchmal gar nicht so leicht, zwischen diesen Genres zu unterscheiden: Ist ein neuer Godard zum Beispiel ein Spielfilm oder eine Dokumentation?
 
Wählen Sie alle Filme, die bei der Viennale gezeigt werden, persönlich aus oder stützen Sie sich auf ein Team?
Nun, ich liebe die Dynamik und die Überraschungen bei Diskussionen über die Filmauswahl – aber letztlich bin ich es, die das Festival programmiert. Es gibt aber auch einige Konsulenten, die uns Empfehlungen von außen geben. Ich sehe nicht nur alle Filme, die wir beim Festival zeigen, sondern auch noch ein paar mehr, die in die Auswahl gekommen sind. An einem langen Wochenend-Tag kann es da schon mal vorkommen, dass ich mir sechs Filme anschaue. Wobei ich aber nicht alle Filme bis zum Ende sehe. Sonst wäre das Pensum nicht zu bewältigen.
 
Sie haben jetzt als Italienierin die Leitung der Viennale übernommen. Ihr Landsmann Carlo Chatrian geht von Locarno zur Berlinale. Und auch das Festival Venedig hat mit Alberto Barbera einen italienischen Chef. Worüber sprechen Sie, wenn Sie einander treffen? Und besitzen Italiener eine besondere Begabung dafür, große Filmfestivals zu leiten? 
Wenn wir uns treffen, reden wir gern über Filme, die eine Festivalpremiere verdienen würden. Und mit Carlo Chatrian spreche ich neuerdings gern über unsere Fortschritte in der deutschen Sprache. Aber natürlich ist es ein Zufall, dass momentan so viele Italiener  Filmfestivals leiten – ein witziger Zufall.
 
Italienische Filme haben hingegen international nicht mehr so einen herausragenden Ruf wie früher. Was ist da passiert?
Stimmt, die Zeiten von Rossellini, Visconti oder Fellini sind vorbei. Es gibt aber interessante neue Stimmen des italienischen Kinos, und einige davon können Sie auf der Viennale 2018 entdecken.
 
Ein wichtiges Fundament des Viennale-Programms besteht in der Regel aus Höhepunkten der Festivals von Berlin, Cannes und Venedig. Bleibt das auch unter Ihrer Leitung so?
Ja, wobei ich hier noch Festivals wie Toronto oder San Sebastian hinzufügen möchte. Wir schauen uns aber auch an, was kleinere Festivals zeigen; von Marseille bis Lissabon oder in Lateinamerika.
 
Welche Bedeutung haben Streaming-Portale wie Netflix heute für ein Filmfestival?
Studios wie Netflix oder Amazon sind ein wichtiger Faktor in der Filmproduktion geworden, das ist eine Tatsache. Und auch wenn ihre Filme in der Regel nicht im Kino laufen, scheinen die Portale doch interessiert daran zu sein, ihre Produktionen bei Festivals vorzustellen. Schließlich entwickeln Filme eine ganz andere Power, wenn sie bei dem Gemeinschaftserlebnis des Kinos präsentiert werden. Es gibt Filme aus dieser Schiene wie etwa „Roma“ von Alfonso Cuarón, an denen ich sehr interessiert bin.
 
Welche Position werden österreichische Filme bei Ihrer ersten Viennale einnehmen?
Die Viennale ist ein internationales Festival, aber natürlich werden Filme aus Österreich gut im Programm vertreten sein. Wir geben diesen Filmen viel Aufmerksamkeit und Respekt.  Wenn ich österreichische Filme anschaue, brauche ich untertitelte Versionen, um die Dialoge zu verstehen. Auch wenn bei Untertiteln natürlich immer etwas verlorengeht.
 
Ein anderer wichtiger Bestandteil der Viennale ist stets auch der Besuch von zumindest einem internationalen Star. Bleibt es auch in Ihrer Ära dabei?
Ja. Ich bin mit einigen Stars in Kontakt, wobei es immer eine komplizierte Sache ist, berühmte Schauspieler oder Schauspielerinnen zu einem Festival zu holen. Mit der Bekanntgabe, wer dieses Jahr nach Wien kommen wird, lassen wir uns noch etwas Zeit.
 
Lassen Sie uns etwas privater werden: Was sind denn Ihre Lieblingsspeisen der österreichischen, der mexikanischen und der italienischen Küche?
Natürlich mag ich ein gutes Wiener Schnitzel, aber ich könnte es nicht jede Woche essen, ohne Gewicht zuzulegen.  In Lateinamerika liebe ich zum Beispiel Aguachile, Meeresfrüchte in scharfer Sauce, oder Ceviche, rohen Fisch mit Limettensaft.  Auch Tacos und Tortillas sind perfekt. Und was Italien betrifft, da ist die Auswahl riesig. Einer meiner Favoriten ist Passatelli in Brodo, die Parmesan-Suppe aus der Emilia-Romagna, wo ich herkomme.

Was Eva Sangiorgi gerne isst: Ceviche, eine Spezialität aus Mexiko © Wiki Flickr Karol M

Von Wien aus haben Sie es nicht weit nach Italien. Nutzen Sie die Wochenenden öfter mal für einen kurzen Trip in die Heimat?
Seit ich nach Österreich übersiedelte, war ich nur ein einziges Mal in Italien, um meinen Vater zu besuchen.  Wenn die Viennale vorbei ist, werde ich aber mehr reisen, jedoch nicht nur nach Italien. Mich interessiert auch Osteuropa sehr, von Ungarn bis Bulgarien oder wohin auch immer. Österreich hat da eine sehr spezielle Lage, inmitten so unterschiedlicher Kulturen.
 
Ihre letzte Wahlheimat, Mexiko, hat ja heute durch die vielen Drogenkonflikte das Image eines sehr gefährlichen Landes. Fühlt sich das Leben dort tatsächlich unsicherer an als in Europa?
Ich verbrachte, wie schon erwähnt, 16 Jahre in Mexiko, und in dieser Zeit hat sich viel geändert.  Das Thema der Drogenkonflikte wurde erst in den letzten sieben oder acht Jahren immer bestimmender. Absurderweise scheint aber gerade die Megalopolis Mexico City einer der sichersten Plätze im Lande zu sein. Die Stadt wurde nie von den Kartellen attackiert, weil sie den Ruf einer geschützten Zone hat, wo die Politiker und die Bosse und ihre Familien leben. Allerdings spürt man das Narco-System allmählich auch ein bisschen im Stadtleben.  Mir ist nie etwas Gefährliches passiert; ich bin auch in Mexico City immer mit dem Rad ins Büro gefahren, bei Tag und bei Nacht. Aber man ist dort einfach ein bisschen vorsichtiger als in Europa. Man fährt zum Beispiel nicht allein in der Nacht mit der U-Bahn – no, no, no.
 
Gibt es Filmgenres und Filmstars, die Sie ganz besonders mögen?
Viele. Ich bin zum Beispiel eine große Freundin des Film noir mit seiner Atmosphäre, den Femmes Fatales und dem Whisky. Wenn es um die Vergangenheit geht, würde ich viel dafür geben, einmal einen Abend mit Marcello Mastroianni oder Monica Vitti zu verbringen. Von den jungen Stars imponiert mir jemand wie Robert Pattinson, den ich sehr mag. Bei den Schauspielerinnen fällt mir als erste Isabelle Huppert ein.
 
Wir haben dieses Interview auf Englisch geführt. Sagen Sie uns zum Abschluss einen Satz auf Deutsch?
(lacht) Ich möchte einen Espresso ohne Milch!



News
Viennale 2018
Die neue Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi stellte am 24. August in Wien erste Details des Programms der Viennale 2018 (25. Oktober – 8. November) vor. Neben bekannten Namen finden sich dort auch Filmemacher, deren Werk es erst zu entdecken gilt. Mehr...