DIE STORY: „Die Karte meiner Träume“ ist ein Roadmovie von Jean-Pierre Jeunet, das einen Zehnjährigen bei einer wundersamen Reise durch Amerika begleitet. Der genialische Farmerssohn T. S. Spivett (Kyle Catlett) aus Montana hat nichts Geringeres als das Perpetuum Mobile erfunden, wofür er vom Smithsonian Institute in Washington mit einer hohen Auszeichnung geehrt wird.
Natürlich haben die Wissenschaftler in der Hauptstadt keine Ahnung, dass ihr Preisträger ein Kind ist. Der kleine T. S. behält das lieber für sich und er erzählt auch daheim kein Sterbenswort. Da er aber unbedingt seinen Preis abholen will, macht er eines Nachts heimlich einen Abgang und entert als blinder Passagier einen Güterzug, der ihn quer über den Kontinent nach Washington bringen soll. Erstaunlicherweise kommt er dort tatsächlich halbwegs heil an und sieht sich mit der grenzenlosen Verblüffung der Smithsonian-Leute konfrontiert, die einen etwas älteren Erfinder erwartet haben.
Die Instituts-Managerin Miss Jibsen (Judy Davis) erkennt aber rasch, dass ein zehnjähriges Genie („Der Mozart der Wissenschaft!“) zum Medienstar taugt und putzt ihn als Festredner und Talkshow-Gast auf. Hier nun tritt Spivetts Mutter, die Biologin Dr. Clair (Helena Bonham Carter), auf den Plan und sammelt ihren Sohn wieder ein. Wobei gleich auch noch eine in stiller Trauer unter den Tisch gekehrte Familientragödie aufgearbeitet wird.
T. S. Spivett, so will es Autor Reif Larsen, der die Romanvorlage schrieb, hatte nämlich einen Zwillingsbruder namens Layton (Jakob Davies). Der kam bei einem Unglück mit einer Flinte ums Leben, und T. S. leidet seither unter der Vorstellung, Laytons Tod sei seine Schuld gewesen. Doch davon, beruhigt ihn seine Mutter nun endgültig, könne keine Rede sein.
DIE STARS: Regisseur Jean-Pierre Jeunet schaffte es kürzlich als einziger, mit einem europäischen Film („Die fabelhafte Welt der Amélie“) auf der „Hollywood Reporter“-Liste der
100 besten Filme aller Zeiten zu landen. In „Die Karte meiner Träume“ setzt er einmal mehr auf Poesie und Phantasie anstatt auf große Namen.
Gewiss, Helena Bonham Carter, die Gefährtin von Tim Burton, ist ein Star, und die Australierin Judy Davis („Absolute Power“) fügt ihrer Perlenkette brillant gespielter Nebenrollen ein weiteres Schmuckstück hinzu. Die Hauptlast des Films liegt aber auf den schmalen Schultern des zehnjährigen Kyle Catlett. Es ist faszinierend, zuzuschauen, mit welcher lässigen Leichtigkeit der Junge, behutsam geführt vom Regisseur, diese Aufgabe meistert.
DIE KRITIK: Schon die ersten Minuten zeigen gloriose Farbenspiele mit Feldern, Bergen und langsam dahindieselnden Güterzügen: „Die Karte meiner Träume“ ist, wie jeder Film von Jean-Pierre Jeunet, ein visuelles Ereignis. Die oft atemraubende Eleganz der Bilder bleibt bis zur letzten Einstellung unverändert hoch: Allein diese Qualität ist Grund genug, den neuen Jeunet zu genießen.
Doch natürlich kann der Film viel mehr. Jeunet sortiert zunächst einmal höchst unterhaltsam die Figuren der höchst ungewöhnlichen Familie, um die sich hier alles dreht. Das Wunderkind T. S. Spivet hat einen fast autistisch wortlosen Farmer-Vater, eine von allem Krabbel-Getier faszinierte Biologinnen-Mutter, eine am Leben leidende Teenager-Schwester und einen verhaltensauffälligen Hund. In Rückblenden kommt auch Spivets Zwillingsbruder Layton ins Bild, der seinen frühen Unfalltod der Tatsache verdankt, dass man in den USA Gewehre für kindertaugliches Spielzeug hält.
Kein Wunder, dass T. S. unter so viel Sonderlingen selbst ein bisschen wunderlich wird. Doch dass der Zehnjährige heimlich abhaut, um die paar Tausend Kilometer nach Washington zurückzulegen, ist schon ein starkes Stück. Das dem Kinopublikum freilich schwelgerisch schöne Szenen beschert. Denn wenn der Kleine nicht gerade irgendwelchen Sicherheitsleuten, Polizisten oder weitgereisten Märchenerzählern entweicht, lässt er die Zuschauer teilhaben an seinen Eindrücken von den landschaftsmäßig höchst eindrucksvollen United States of America (die in Kanada gedreht wurden).
„Die Natur ist verschwunden“, notiert Spivet dann aber schon bei der Einfahrt zum Zwischenstopp in Chicago, und mit dem Zauber der Landschaft schwindet auch ein wenig der Zauber des Films. Denn das folgende Drama über Wissenschaft, Medienhype und Familie ist zwar ebenfalls kunstvoll in Szene gesetzt, doch fehlt es hier der Story an der Magie, welche die ersten drei Viertel des Films auszeichnet. In Summe bietet „Die Karte meiner Träume“ jedoch ein ungewöhnliches und feines Kino-Erlebnis.
IDEAL FÜR: alle Fans von Jean-Pierre Jeunet, seinem Meisterwerk „Die fabelhafte Welt der Amélie“ sowie für die Leser von Reif Larsens Roman „Die Karte meiner Träume“, der dem Film zugrunde liegt.