„Nimm‘ eine Kamera in die Hand und filme – das macht glücklich!“
06.08.2014
Interview:
Gunther Baumann
Ein genialischer Zehnjähriger erfindet das Perpetuum mobile, haut von zuhause ab und reist als blinder Passagier mit einem Güterzug von Montana nach Washington, um dort einen großen Wissenschaftspreis entgegenzunehmen. Das ist der Plot von „Die Karte meiner Träume“. Der Roman des US-Autors Reif Larsen wurde zum Weltbestseller. Jetzt läuft die Filmversion im Kino an: Jean-Pierre Jeunet, der mit der märchenhaften Komödie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ Filmgeschichte schrieb, schuf einmal mehr ein Kino-Kunstwerk voll visueller Kraft, Spannung und Poesie. Im FilmClicks-Interview erzählt Jeunet über die schwierige Produktion und über seine filmischen Leidenschaften.
FilmClicks: Monsieur Jeunet, Sie porträtieren in „Die Karte meiner Träume“ einen Zehnjährigen, der sehr naiv und sehr bestimmt große Ziele verfolgt. Ist dieser Junge namens T. S. Spivet ein Seelenverwandter Ihrer berühmtesten Filmfigur Amélie?
Jean-Pierre Jeunet: Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Die beiden, T. S. Spivet und Amélie, sind Seelenverwandte von mir. Ich hatte schon als Kind eine immense Freude daran, mir etwas auszudenken und die Dinge dann einfach zu tun, sie durchzuziehen. Ich war kein Genie, ich war kein kleiner Wissenschaftler und nicht der Neuerfinder der Cinémathèque Francaise. Aber die Freude, etwas zu tun, hat mich bis heute nicht verlassen. Jean Renoir sagte einmal, „ich mache Filme für das Vergnügen, Filme zu machen“. Das ist meine Philosophie.
Was hat Sie – außer Ihrer Zuneigung zur Hauptfigur - am Bestseller „Die Karte meiner Träume“ so fasziniert, dass Sie ihn verfilmen wollten?
Erstens: Dies ist eine Geschichte mit sehr starken Emotionen. Zweitens: Ich liebe Geschichten, in denen es um Wissenschaft und Poesie geht. Das ist hier der Fall. Und da sehe ich eine Verbindung zu meinem Beruf: Filmemachen, das ist Technik plus Poesie. Bis heute mag ich die technischen Aspekte des Filmens sehr gern. Davon abgesehen, gefiel mir bei diesem Projekt die Idee, erstmals auf Englisch und in 3D zu drehen.
Der zehnjährige T. S. Spivet ist die Hauptfigur und muss im Grunde den ganzen Film tragen. Wie schwer war es, den jungen Kyle Catlett für die Hauptrolle zu finden?
Das war eine Aufgabe, die einem durchaus Angst einjagen konnte. Denn wir haben lange überhaupt niemand gefunden, der uns überzeugte – nicht einmal bei den Jungs, die bei „Hugo“ von Martin Scorsese in der Endauswahl waren. Und dann sahen wir auf einmal auf Skype einen Jungen – zu klein und mit neun Jahren auch zu jung -, der sagte: „Ich spreche Chinesisch. Ich spreche Russisch. Ich bin ein Martial-Arts-Champion. Und außerdem kann ich auf Kommando weinen – schaut her!“ Da wusste ich, diesen Jungen muss ich sehen. Und in der Tat: Kyle Catlett ist ein echter Profi. Ich konnte mit ihm reden wie mit Audrey Tautou bei „Amélie“. Kyle ist übrigens auch ausgesprochen mutig. Er wollte alle seine Stunts selber machen.
„Die Karte meiner Träume“ ist ein Film voller großartiger Naturaufnahmen.
Das bedeutete eine Premiere für mich – bei diesem Film drehte ich im Grunde zum ersten Mal viel in der Natur. Der Film spielt ja zunächst in Montana, aber wir drehten das jenseits der US-Grenze in Alberta in Kanada. Wir waren während der Vorbereitung in einer Woche 5.000 Kilometer unterwegs, um die richtige Location für unsere Ranch zu finden – und dann wählten wir jenen Schauplatz aus, den wir uns als erstes angeschaut hatten.
Ging der Dreh leicht von der Hand?
Nein. Man könnte sagen, diese Produktion war ein Überlebenstraining. Der Dreh war so schwierig, dass es uns wie ein Wunder vorkam, den Film abschließen zu können. Vielleicht kennen Sie die Story: Kyle Catlett, unser Hauptdarsteller, musste gleichzeitig bei uns und bei einer TV-Serie auftreten. Das war ein wahrer Albtraum, und ich hatte viele Probleme mit amerikanischen Agenten. Bei einigen Szenen ohne Dialog mussten wir sogar ein Double für Kyle einsetzen. Ich fühlte mich wie Leonardo DiCaprio in „Titanic“: Entweder, ich schwimme, oder ich sterbe. Leonardo starb in der Rolle – ich nicht.
Wie kamen Sie auf Helena Bonham Carter für die Rolle von T. S. Spivets Mutter?
Ich traf sie vor Jahren beim Dreh von David Finchers „Fight Club“. Sie spricht französisch, und sie sagte mir schon damals, dass sie gern einmal mit mir arbeiten würde. Als ich dann „Die Karte meiner Träume“ als Roman las, dachte ich sofort an sie. Und sie sagte sofort zu. Wahrscheinlich werden wir auch bei meinem nächsten Film zusammenarbeiten. In dem geht es um künstliche Intelligenz, aber es wird ein kleinerer Film als dieser. „Die Karte meiner Träume“ hat 25 Millionen Euro gekostet. Das ist sehr viel.
Es heißt, Sie hätten sehr gern „Schiffbruch mit Tiger“ gedreht - den Film, mit dem Ang Lee 2013 den Regie-Oscar gewann.
Das stimmt, ich habe zwei Jahre an dem Projekt gearbeitet. Ich schrieb ein Drehbuch, das in Hollywood sehr gut ankam, aber das Problem waren die Kosten. Man wollte nicht über 60 Millionen Dollar hinausgehen, und mein Film hätte 85 Millionen gekostet. Wir verbrachten vier Monate damit, den Film mit Storyboards komplett durchzuzeichnen, wir schauten uns Locations in Alicante und anderen Orten an. Yann Martel, der Autor des Romans, war begeistert. Aber wir schafften es nicht, bei der Kalkulation unter die 85 Millionen Dollar zu kommen. Ich gab es dann auf und drehte „Micmacs“. Als ich das „Schiffbruch“-Projekt drei Jahre später noch einmal angehen wollte, hatte man Ang Lee engagiert – und er drehte den Film um 150 Millionen Dollar.
Wie gefällt Ihnen Ang Lees Film?
Der Mittelteil auf dem Meer ist großartig. Aber den Anfang und das Ende finde ich langweilig. Das ist einfach eine Copy-Paste-Version des Romans.
Sie hatten auch einmal das Angebot, einen „Harry Potter“ zu drehen.
Ja, nach meinem Kriegsfilm „Mathilde – Eine große Liebe“, der 2004 herauskam. Das war ein sehr anstrengender Dreh, doch sie wollten von mir, dass ich nach einer ganz kurzen Pause mit „Potter“ beginne. Ich habe abgesagt. Denn schließlich: Das Casting war fertig. Die Ausstattung war fertig. Die Kostüme waren fertig – ich hätte nur zu drehen brauchen. Das kam mir irgendwie ziemlich langweilig vor. Statt dessen habe ich lieber zwei verlorene Jahre mit „Schiffbruch mit Tiger“ verbracht
(lacht).
„Die Karte meiner Träume“ ist ein 3D-Film. Schätzen Sie diese Technik?
Wenn sie künstlerisch gut eingesetzt wird, ja. Aber das geschieht selten. „Schiffbruch mit Tiger“ war gut. James Camerons „Avatar“ war gut. Martin Scorseses „Hugo“ war gut und Alfonso Cuarons „Gravity“ war gut. Das ist es auch schon. Und dann gibt es natürlich meinen Film. „,Die Karte meiner Träume‘ ist der beste 3D-Film von allen“, stand im Magazin
Variety. Was soll ich sagen? „
Variety hat Recht.“
War es immer Ihr erklärtes Berufsziel, Regisseur zu werden?
Wenn mich manchmal Studenten fragen, was sie tun sollen, um Regisseur zu werden, dann antworte ich: „Wollen Sie ein Regisseur sein oder wollen Sie Filme machen?“ Wer den Ruhm sucht, wer über den Roten Teppich schreiten und mit schönen Frauen schlafen will, der soll Regisseur werden. Aber wer Filme machen will, der sollte eine Kamera in die Hand nehmen und anfangen. Das macht glücklich. So einfach ist das.