22 July
Genre: Dokudrama
Regie: Paul Greengrass (Großbritannien)
Stars: Die Darsteller aus Norwegen sind bei uns weithin unbekannt. Paul Greengrass inszenierte drei der „Bourne“-Kinohits
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Der Filmtitel „22 July“ bezieht sich auf ein Datum, das in Norwegen jeder kennt. Am 22. Juli 2011 tötete der rechtsradikale Terrorist Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utoya 77 Menschen; die meisten von ihnen waren Teenager. Der Film erzählt die Geschichte dieses Attentats und seiner Folgen.
„July 22“ beginnt wenige Stunden vor den Anschlägen. Man sieht, wie Anders Breivik (Anders Danielsen Lie) eine Polizeiuniform anlegt und wie er eine Autobombe vor einem Regierungsgebäude detonieren lässt. Dann fährt er weiter zur Insel Utoya, zum Jugend-Ferienlager der norwegischen Sozialdemokraten. Dort angekommen, beginnt er sofort, mit seinem Gewehr wahllos die Kinder und ihre Betreuer abzuschießen.
Nach 40 Minuten Filmdauer ist das Massaker vorbei. In den folgenden 100 Minuten kümmert sich „July 22“ um die Nachwirkungen für die Betroffenen und um die schwarze Gedankenwelt des Attentäters Breivik, der seinen Massenmord als politische Handlung bezeichnet. Kulminationspunkt des Films ist der Prozess, in dem Breivik als Mörder verurteilt wird.
Wer sich von Regisseur Paul Greengrass einen Thriller im Stil seiner „Jason Bourne“-Filme erwarten sollte, liegt völlig falsch. Zwar zeigt er das Töten, doch die Gewaltszenen sind so kurz wie möglich gehalten und in einem Stil gefilmt, der Entsetzen und Mitgefühl weckt.
Diese beiden Emotionen bestimmen dann auch den Fortgang des Films. Man hat Mitgefühl mit jenen Überlebenden und ihren Familien, die beispielhaft für alle anderen Opfer ins Bild kommen. Und man ist entsetzt über die wahnhaften und mordlüsternen Thesen des Anders Breivik, der Norwegen mit der Knarre in der Hand zu einem Land ohne Islam und ohne „Kulturmarxismus“ umbauen wollte.
Eine wichtige Rolle nimmt der damalige norwegische Ministerpräsident – und heutige NATO-Generalsekretär – Jens Stoltenberg (Ola G. Furuseth) ein, der vor einem Rechtsruck warnt und dem liberalen Land empfiehlt, auf die Kraft der Demokratie zu vertrauen.
Als Gegenpol zu Anders Breivik tritt immer stärker der Teenager Viljar Hanssen (Jonas Strand Gavli) hervor, der das Attentat mit schlimmsten Kopfverletzungen überlebt hat. Und der in der Zeit seiner langsamen Heilung die Kraft findet, im Breivik-Prozess als Zeuge auszusagen.
Im Prozess kommt auch der Mörder selbst zu Wort – von Anders Danielsen Lie porträtiert als gefühlskalter, zynischer Mann, der zu seinen Taten steht und der angesichts seiner Zukunftsaussichten (ein Leben hinter Gittern) eine fast schon absurde Selbstsicherheit ausstrahlt.
Dass „22 July“ dem Attentäter somit ein Forum gibt (der Film basiert auf dem Sachbuch-Bestseller „Einer von uns: Der Geschichte des Massenmörders Anders Breivik“ von Asne Seierstad), wird Regisseur Paul Greengrass von manchen Beobachtern vorgeworfen.
In der Tat ist nicht auszuschließen, dass sich vereinzelte Rechtsextreme bestätigt fühlen, wenn sie im Film in die grausame Gedankenwelt Breiviks eintauchen. Doch bei der überwältigenden Mehrheit der Zuschauer wird der Film wohl den gegenteiligen – und beabsichtigten – Effekt auslösen. „22 July“ ist eine eindringliche Warnung vor dem Unglück, das hemmungsloser Rechtsextremismus über die Welt bringen kann.
Kinostart: Vermutlich keiner. Die Netflix-Produktion ist ab 10. Oktober auf dem Streaming-Portal zu sehen
Publikums-Chancen: hoch
Gesamteindruck: Packendes Dokudrama über einen rechtsradikalen Terroranschlag in Norwegen, der 2011 in der ganzen Welt Entsetzen auslöste.
Our Time (Nuestro Tiempo)
Genre: Arthaus-Drama
Regie: Carlos Reygadas (Mexiko)
Die Stars: Regisseur Reygadas spielt selbst die Hauptrolle
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Der Mexikaner Carlos Reygadas ist kein Freund der kurzen Distanz. Seine vielfach auf Festivals ausgezeichneten Filme wie „Japon“ oder „Stilles Licht“ dauern gern mal zwischen zwei und drei Stunden. Sein neues Werk ist da keine Ausnahme. „Our Time“ verfehlt die drei Stunden nur um sieben Minuten. Eine lange Strecke, die es sich aber lohnt, gemeinsam mit dem visionären Filmemacher zu gehen. Wenn man denn Geduld aufbringt.
„Our Time“ spielt in der Gegenwart irgendwo in der mexikanischen Pampa. Juan (Reygadas) lebt als Rinderzüchter und Poet mit seiner Frau Ester (Natalia López) und zwei Kindern auf einer Farm. Was das Ehepaar praktiziert, ist am besten mit offener Partnerschaft umrissen. Doch das greift den Sachverhalt nicht ganz. Denn Juan gewährt seiner Frau nicht nur immerzu neue Liebhaber. Er führt sie ihr sogar zu. Bis er eines Tages nicht mehr kann.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Und dennoch lässt sich Reygadas erstaunlich viel Zeit, um den Zuschauer mit auf die Reise zu nehmen. Zu Beginn baden Kinder und Jugendliche zehn Filmminuten lang in einem von Schlamm umgegebenen See. Wer mit wem zusammenhängt, das wird erst viel später klar. Carlos Reygadas will Zeit erfahrbar machen. Dafür findet er einen sehr entspannten Rhythmus. Immer wieder verweilt er bei herrlichen Naturaufnahmen. Er nimmt sich die Zeit, minutenlang einen Anflug in der Nacht auf den Flughafen von Mexiko-Stadt zu zeigen. Auch der Sex wird stilvoll präsentiert.
Fazit: Kino sicher nicht für jedermann. Aber für einen Ort wie Venedig der perfekte Film für den erstklassig besetzten Wettbewerb.
Kinostart: Noch kein Termin
Publikums-Chancen: Beim Arthaus-Publikum mit viel Ausdauer sehr gut
Gesamteindruck: Grandiose Bilder, leidenschaftliche Gefühle – im Zeitlupen-Tempo erzählt.