Filmfest Venedig 2017

Groteske voll Witz und Gewalt: „Suburbicon“ von George Clooney

03.09.2017
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
In Venedig gefeiert für „Suburbicon“: Matt Damon, Regisseur George Clooney und Julianne Moore © Katharina Sartena
George Clooney, Stephen Frears, Samuel Maoz und Ai Weiwei: Vier Regisseure, die das erste Drittel des Filmfests Venedig prägten. Wir berichten über George Clooneys hinreißende Groteske „Suburbicon“, die auch deshalb manchmal an einen Coen-Brothers-Film erinnert, weil sie auf einem Drehbuch der Coens basiert. Über Stephen Frears‘ köstliche Royals-Komödie „Victoria & Abdul“, in der Judi Dench als Queen Victoria glänzt. Der israelische Regisseur Samuel Maoz schuf mit „Foxtrot“ ein ergreifendes Drama über den immerwährenden Wahnsinn des Nahost-Konflikts. Und der chinesische Kunst-Star Ai Weiwei fuhr als Filmemacher ein Jahr um die Welt, um mit „Human Flow“ die internationalen Flüchtlingswellen zu dokumentieren.
„Suburbicon“: Julianne Moore und Matt Damon spielen keine Helden © Filmfest Venedig

Suburbicon
Genre: Groteske / Thriller / Drama
Regie: George Clooney (USA)
Star-Faktor: sehr hoch (Matt Damon, Julianne Moore, Oscar Isaac)
Venedig-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
„Suburbicon“,  George Clooneys sechste Arbeit als Regisseur, ist eine bitterböse und streckenweise brüllend komische Groteske über das Amerika von Donald Trump. Es geht um die Angst der weißen Mittelschicht vor dem Verlust ihrer Privilegien. Um unverhohlenen Rassismus. Um den Bau von Grenzzäunen. Und um die Neigung der breiten Masse, die Schuld für Missstände den Minderheiten in die Schuhe zu schieben.
Clooney nutzt ein Setting in den Fünfziger Jahren, um Konflikte von heute zu thematisieren. Die Story stammt aus zwei Quellen. „Suburbicon“ basiert auf einem unverfilmten  Drehbuch von Joel & Ethan Coen, die in einer spießigen Vorstadt-Siedlung einen absurden Kriminalfall ablaufen lassen.
George Clooney und sein Schreib-Partner Grant Heslov fügten dem Thriller den Rassismus-Aspekt und den Zaunbau hinzu. Als sich nämlich eine dunkelhäutige Familie in der Siedlung niederlässt, drehen die weißen Einwohner komplett durch und schotten sich durch die Errichtung eines hohen Zauns von den Zugereisten ab.
Streckenweise wirkt diese dunkelschwarze (und tragische) Komödie wie der beste Coen-Film, den die Coen-Brüder nie gedreht haben. Der Weg des Films führt gleich zu Beginn voll aufs Glatteis, wenn die titelgebende Siedlung Suborbicon als heile Welt vorgestellt wird, in der brave Bürger ein braves Leben führen können.  Doch die Welt der Familie Lodge, die dann im Mittelpunkt steht, könnte unheiler nicht sein.
Vater Gardner Lodge (Matt Damon) lebt mit seiner Frau Nancy und deren Schwester Margaret (beide gespielt von Julianne Moore) sowie mit Sohn Nicky (Noah Jupe) unter einem Dach. Eines Nachts wird die Familie von zwei Gewalttätern überfallen. Die Ehefrau überlebt die Attacke nicht.  Der Witwer und die Schwester des Opfers scheinen nicht sonderlich zu trauern. Sind sie insgeheim ein Paar, das einen Mord in Auftrag gab?
Während die Polizei und ein smarter Versicherungs-Detektiv (hinreißend: Oscar Isaac) die Spur des Mordfalls aufnehmen, eskaliert nebenan der Protest gegen die dunkelhäutigen Neubewohner der Siedlung.  Beide Handlungsstränge führen zu immer groteskeren Situationen – und münden schließlich im Ausbruch von unkontrollierter Gewalt.
Regisseur George Clooney zeigt einerseits mit viel Lust am schwarzen Humor, dass er das Metier beherrscht, im Stil der Coen-Brüder zu inszenieren. Andererseits gibt er dem Film auch seine eigene Handschrift – etwa in der sorgsamen und feinfühligen Personenführung. Er lässt Matt Damon und Julianne Moore, die ja eher im Fach der positiven Helden daheim sind, mit subtiler Intensität immer mehr zu monströsen Figuren werden.
 Unterm Strich ist „Suburbicon“  eine grelle, spannungsgeladene  Groteske, in der es viel zu Lachen gibt, auch wenn einem das Lachen oft im Hals steckenbleibt. Das Filmblut ergießt sich gelegentlich in dicken Strömen über die Leinwand, auch wenn man wenig explizite Gewalt zu sehen bekommt. Die Protagonisten mit ihrer Mischung aus Gier, Aggression, Engstirnigkeit und dumpfem Hinterwäldlertum  sind so furchtbar, dass man froh ist, ihnen nur im Kino zu begegnen.
Aber George Clooney hat nicht nur, wie er in Venedig sagte, seinen zornigsten Film gedreht – er mag auch nicht verhehlen, dass er tief im Inneren ein Optimist ist. Zwar darf nur ein Teil der Figuren das Finale erleben, doch der Regisseur hat einen Weg gefunden, den Zuschauern auch ein wenig Hoffnung mitzugeben: Noch ist Amerika nicht verloren. Zumindest nicht ganz. (bau)
Kinostart: 10.November 2017
Kinochancen: sehr gut
Gesamteindruck: Regisseur George Clooney wandelt meisterlich auf dem schmalen Grat zwischen Komik, Gewalt und ernsten gesellschaftlichen Themen

Judi Dench und Ali Fazel in und als „Victoria & Abdul“ © Filmfest Venedig

Victoria & Abdul
Genre: Biografie / Komödie
Regie: Stephen Frears (Großbritannien)
Star-Faktor: hoch (Judi Dench spielt Queen Victoria)
Venedig-Premiere: außer Konkurrenz
Dieser Film ist eine Komödie und ein Drama – und unglaublicherweise ist er auch noch wahr. „Victoria & Abdul“ erzählt von der einst mächtigsten Frau der Welt, der britischen Queen Victoria (1819 – 1901),  die in ihren letzten Lebensjahren immer stärker dem Rat eines  indischen Lakaien namens Abdul Karim vertraute.
Die gloriose Judi Dench spielt die späte Queen Victoria. Von den vielen Jahrzehnten ihrer Regentschaft längst erschöpft, spult die Monarchin dennoch mit eiserner Disziplin ihr Programm ab, das aus komplett durchgetakteten Tagen besteht.
Eines Tages steht der Inder Abdul Karim (Ali Fazel) vor ihr, der in der Heimat dazu ausgewählt wurde, der Queen (die damals auch über den Subkontinent regierte) eine Ehrenmünze zu überbringen. Victoria nimmt Abdul erst einmal überhaupt nicht wahr – und dann umso mehr.
Zum Entsetzen des Hofes kommt die Queen ins Gespräch mit dem aufgeweckten, neugierigen und etwas naiven Mann, der keine Scheu vor Majestäten kennt. Zum noch größeren Entsetzen des Hofes will sie ihn bald ständig an ihrer Seite haben. Victoria erörtert Regierungsgeschäfte mit Abdul und ernennt ihn zu ihrem Munshi,  ihrem spirituellen Berater.         
Und Victorias angestammtes Team, von der Regierung bis zu ihrem Sohn Bertie, dem späteren König Edward VII.?  Das wird von der resoluten Herrscherin mehr und mehr schachmatt gesetzt. Was die hochmögenden Damen und Herren bei Hofe abwechselnd an den Rand des Wahnsinns oder zu Kündigungsgedanken treibt.
Der große britische Regisseur Stephen Frears, der filmisch gern bei den Royals vorbeischaut (er inszenierte den Superhit „Die Queen“ mit Helen Mirren), verleiht der leicht skurrilen Geschichte jede Menge Leben, Humor und Emotion.
Zu Beginn gibt er dem Affen Zucker, wenn eine komödiantische Filmsequenz  die nächste jagt. Die Ankunft des Inders in London, das strenge Zeremoniell im Palast und die royale Entrüstung,  wenn der Fremdling der Monarchin näher kommt: Daraus entstehen köstliche Szenen, bei denen es viel zu lachen gibt.
Gegen Ende hin nimmt der Film dann die Wende zum Drama. Weil der Widerstand des Londoner Stabes gegen Abdul immer größer wird. Und, vor allem, weil Queen Victoria ihren letzten Lebenstagen entgegengeht. Die Todesszene der Monarchin ist überwältigend sensibel und melancholisch gespielt.
Das liegt natürlich an Oscar-Preisträgerin Judi Dench,  die mit dem Porträt der Queen ihrer eigenen Karriere quasi die Krone aufsetzt. Judi Dench setzt ihr staunenswertes Repertoire an kleinen Gesten, Blicken und Bewegungen ein, um die Stimmugnen (und Stimmungswechsel) von Victoria auszuspielen. So entsteht mit winzigen Mitteln größtmögliche darstellerische Intensität. Das verleiht diesem höchst unterhaltsamen Film, der nicht nur Royals-Fans begeistern wird, noch eine zusätzliche Dimension. (bau)
Kinostart: 28. September 2017
Kinochancen: sehr gut
Gesamteindruck: Judi Dench und Regisseur Stephen Frears adeln eine köstliche Episode aus dem Leben von Queen Victoria

Ein ergreifendes Drama über den Nahost-Konflikt: „Foxtrot“ © FilmfestVenedig

Foxtrot
Genre: Drama
Regie: Samuel Maoz (Israel)
Star-Faktor: gering - bisher kennt man die Schauspieler nur in Israel.
Venedig-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Den „Foxtrot“ kennt man hierzulande - mit einem t mehr - als Gesellschaftstanz. In Isreal, dem im Dauerkonflikt lebenden Land, scheint das anders zu sein. Dort wird der Begriff eher in der Militärsprache verwendet. Zum Beispiel für eine kleine Einheit von Soldaten, die mitten im Nirgendwo eine Straße sichern muss.
In „Foxtrot“, dem Film, fährt hin und wieder mal ein Auto, das kontrolliert wird. Ansonsten hebt sich die Schranke regelmäßig für das dort lebende Kamel. An diesem Ort versieht Jonathan Feldmann seinen für alle Israelis verpflichtenden Militärdienst. Er schiebt mit drei Kollegen eine eher ruhige Kugel. Zeichnet viel im Comic-Stil und erzählt, wie der Vater beinahe die kostbare Familienbibel versetzte. Es ist nicht davon auszugehen, dass Jonathan dort jemals  etwas passieren könnte.
Doch dann: Die Eltern von Jonathan sind entsetzt, als ihnen eines Tages mitgeteilt wird, dass ihr Sohn umgekommen ist. Die Mutter Dafna (Sarah Ader) kollabiert. Den Vater Michael (Lior Ashkenazi) zerreisst es. Er muss nun alle Formalitäten regeln. Obwohl er erst einmal trauern möchte, verlangt der Staat danach, Jonathan am nächsten Tag zu bestatten.
Mitten hinein in die Vorbereitungen zur Beisetzung platzt aber eine Nachricht, die wieder alles anders erscheinen lässt…
Samuel Maoz hat schon 2009 bewiesen, dass er ein radikaler Filmemacher ist. In „Lebanon“ zeigte er damals schonungslos, welche Hölle innerhalb eines Panzers herrschen kann. Dafür bekam er in Venedig völlig zu Recht den Goldenen Löwen.
Ähnlich intensiv ist auch sein neuer Film geworden. Maoz erzählt in drei Kapiteln von der Trauer und dem Wahnsinn des nicht enden wollenden Krieges im Nahen Osten. Jedes Mal geschieht etwas, das der ganzen Geschichte eine völlig neue Richtung gibt. Zwischendrin wird mal hemmungslos gelacht oder mitten in der Steppe getanzt. Und dann herrscht wieder Schwermut, die einem das Herz zusammenschnürt.
Wenn es denn etwas helfen würde, dann sollten sich alle Politiker in der Region diesen herausragenden Film anschauen, um vor Augen geführt zu bekommen, welches Leid sie in Familien anrichten.
Kinostart: noch kein Termin
Kinochancen: in Arthaus-Kinos gut
Gesamteindruck: Intensives Kammerspiel, das einen durch seine zahlreichen - zum Teil schockierenden - Wendungen wieder einmal neu und anders über den irrsinnigen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern nachdenken lässt

Unterwegs mit den Flüchtlingen in aller Welt: „Human Flow“ © Filmfest Venedig

Human Flow
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Ai Weiwei
Star-Faktor: für Kunstfreunde hoch (Ai Wei Wei ist ein Star der internationalen Kunstszene)
Venedig-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Mit einem Ai Wei Wei schmückt sich jedes Kultur-Großereignis dieser Erde gern. Als der chinesische Künstler parallel zur Berlinale 2016 Teile des Berliner Konzerthauses umgestaltete (mit Tausenden Rettungswesten von Geflüchteten umwickelte er die Säulen am Eingang), war das Staunen groß und in vielen Feuilletons war nachzulesen, dass das genau der richtige Kommentar zur Flüchtlingskrise sei.
Auf „Human Flow“, Ai Weiweis Dokumentation zur Migration, der gegenwärtig größten Krise unseres Planeten (oder vielleicht der zweitgrößten nach dem Klimawandel), durfte man also gespannt sein.
Bei „Human Flow“ wird bald klar: Ai Weiwei ist nicht an der Tagespolitik interessiert. Auch nicht an vorschnellen Schuldzuweisungen. Ihm geht es um das große Ganze. Er hat  (deshalb auch die stattliche Filmlänge von 140 Minuten) mit seinem Team mehr als ein Jahr lang 20 Länder bereist und zeigt nun, welche Flüchtlingsströme unterwegs sind. Ob nun von Mexiko und weiter südlich in die USA. Von Afrika nach Europa. Aus den Palästinenser-Gebieten nach Jordanien. Und so weiter und so fort. Ai Weiwei ist überall mit seinem iPhone dabei und filmt. Und er lässt sich von Kameras dabei filmen, wie er mit Flüchtlingen und Politikerinnen spricht.
Langeweile kommt nie auf. Es gibt immer viel zu sehen und zu lesen. Reichlich Informationen werden eingeblendet. Dazu Schlagzeilen wie Angela Merkels „Wir schaffen das!“ Auch für Poesie ist noch Platz. Das große Pfund, mit dem Ai Weiwei reichlich wuchert, sind seine Bilder. Viele Aufnahmen aus der Luft - vom Meer oder von Flüchtlings-Camps. Oder brennende Ölfelder im Irak. Das sieht trotz der kleinen Kamera nach großem Kino oder Gemälden aus.
Woran „Human Flow“ allerdings leidet, das ist zum einen die Länge des Films. Etliche Einstellungen doppeln sich. Da hätte sich der Chinese - obwohl er zu Beginn seiner Karriere mal Film studiert hat - Rat bei erfahrenen Kollegen einholen sollen.
Aber das größte Problem ist das Ego des Ai WeiWei. Bis zu einem gewissen Punkt verleiht es den Szenen Glaubwürdigkeit, wenn er in jedem fünften Bild auftaucht: Ai Weiwei war dabei!  Jeder Zuschauer hat es irgendwann verstanden.
Doch der Künstler übertreibt es dann. Er spielt sich unangenehm in den Vordergrund, wenn er persönlich Flüchtlingen bei der Ankunft in Griechenland hilft und sich dabei filmen lässt. Oder wenn er einem Flüchtling anbietet, seinen Reisepass und sein Berliner Studio gegen des Flüchtlings Papiere und sein nasses Zelt zu tauschen. Da bekommt der Film einen schalen Beigeschmack. Ai Weiweis Installationen zu den Themen der Zeit geraten ihm (noch) wesentlich besser. (bed)
Kinostart: 16. November 2017
Kinochancen: in Arthäusern gut
Gesamteindruck: Flüchtlings-Doku in grandiosen Bildern. Regt zum Nachdenken an, ist aber nicht frei von Mängeln