Filmfest Venedig 2016

Mel Gibson: Kriegsfilm gegen die Gewalt

05.09.2016
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
„Hacksaw Ridge“ am Lido: Mel Gibson, Teresa Palmer, Andrew Garfield, Vince Vaughn (v. re.) © Katharina Sartena
Drei starke Filme beim Festival Venedig: Regisseur Mel Gibson zeigt mit „Hacksaw Ridge“ einen harten Kriegsfilm, der zugleich ein Aufruf gegen die Gewalt ist. Francois Ozon widmet sich in seinem packenden Drama „Frantz“ den lange nachwirkenden Schockwellen der Gewalt (des Ersten Weltkriegs). Die avantgardistische Doku „Spira Mirabilis“ richtet ihre Antennen in eine ganz andere Richtung aus. Hier geht es um Perfektion – und um die Unsterblichkeit.
„Hacksaw Ridge“: Andrew Garfield als US-Soldat, der den Dienst mit der Waffe verweigert © Filmfest Venedig

Hacksaw Ridge

Genre: Kriegsfilm
Regie: Mel Gibson (Australien/USA)
Star-Faktor: Hoch (Andrew Garfield, Teresa Palmer, Vince Vaughn)
Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz
Wer hätte so etwas von Mel Gibson erwartet: Der alte Hollywood-Haudegen widmet sich in „Hacksaw Ridge“ einem sehr speziellen Genre, dem pazifistischen Kriegsfilm.
Das Drama, dessen Kampfszenen den Wahnsinn des Krieges sehr drastisch bebildern, schildert die wahre Geschichte des Soldaten Desmond Doss (Andrew Garfield), der sich während des Zweiten Weltkriegs freiwillig zur Armee meldete, jedoch den Dienst mit der Waffe verweigerte.
Nach zahlreichen Konflikten, die bis zu einem Militärgerichts-Verfahren führten, erhielt Doss die Genehmigung zum Fronteinsatz als Sanitäter. Ohne Gewehr. In der Schlacht um Okinawa wurde er dann zum hoch dekorierten Held, weil es ihm gelang, unbewaffnet 75 verletzte Soldaten  aus der Schusslinie zu retten.
Der Ex-„Spider-Man“ Andrew Garfield legt den späteren Helden Doss zu Beginn als heiteren Hillbilly aus den Blue Ridge Mountains an, dem es mit seinem naiven Charme gelingt, das schönste Mädchen im Ort (Teresa Palmer) zu betören. Ernst wird dieser Desmond nur,  wenn es um den Weltkrieg geht. Er will nicht außen stehen, während seine Alterskollegen gegen die Nazis und die Japaner kämpfen. Aber er will nicht schießen.
Mel Gibson, dessen Nähe zum konservativen Christentum bekannt ist, war gewiss von dem Aspekt begeistert, dass auch sein Protagonist niemals ohne die Bibel das Haus verlässt – Desmond Doss ist ein sehr frommer Waffenverweigerer.  Nach einer schwierigen Grundausbildung  in den USA (Vince Vaughn glänzt als herrischer Sergeant) wird Doss mit seiner Einheit an die Japan-Front verlegt.
Die Kriegsszenen, die dann folgen, dauern lange und zählen zu den grausamsten seit Steven Spielbergs „Private Ryan“. Dem Regisseur Gibson gelingt es, die Gewalt sichtbar zu machen, ohne sie auch nur im Ansatz zu verherrlichen. Der Kampf mag an dieser Front moralisch gerechtfertigt sein. Aber die Gewalt tötet, sie macht Soldaten zu Krüppeln oder bestenfalls zu schwer traumatisierten jungen Männern.
Im Nachspann des Films sieht man Aufnahmen des echten Desmond Doss (der 2006 starb) und einiger jener (mittlerweile sehr alten) Männer, denen er 1945 das Leben rettete. Mel Gibson, dessen Ansichten immer wieder zum Widerspruch herausfordern, hat für „Hacksaw Ridge“ Beifall verdient.  (bau)
Kinostart: 12. Januar 2017
Kinochancen: Gut
Gesamteindruck: Beinharter Kriegsfilm mit einer Friedensbotschaft  
  

„Frantz“: Paula Beer und Pierre Niney im neuen Drama von Francois Ozon © FilmfestVenedig

Frantz
Genre: Drama
Regie: Francois Ozon (Frankreich)
Star-Faktor: Mittel (Paula Beer, Pierre Niney)
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Der französische Regie-Star Francois Ozon schließt mit seinem intensiven Schwarz-Weiß-Drama „Frantz“ eine Lücke. Er behandelt das sehr distanzierte bis feindliche Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich  nach dem Ersten Weltkrieg. Ozon macht das, wofür Kino mal erfunden wurde. Er nimmt uns Kinogänger mit an einen Ort, zu dem wir keinen Zugang haben und erzählt eine faszinierende Geschichte.
Der Filmtitel „Frantz“ steht für den deutschen Soldaten Frantz, der im Ersten Weltkrieg ums Leben kam. Seine junge Witwe Anna Hofmeister (Paula Beer) geht jeden Tag zum Friedhof im kleinen Städtchen Quedlinburg. Eines Tages sieht sie einen mysteriösen Fremden am Grab ihres Mannes. Der Franzose Adrien (Pierre Niney) stellt sich als Freund ihres Mannes vor, der Frantz im Krieg getroffen haben will.
Mehr und mehr aber stellt sich heraus, dass an Pierres Geschichte irgendetwas nicht stimmt. Anna beginnt nachzuforschen, um das große Geheimnis zu lüften: Was geschah wirklich zwischen Frantz und Pierre?
Es dauert fast bis zur Hälfte des Films, bis man zu ahnen beginnt, in welche Richtung sich das Drama (nach einer Vorlage von Ernst Lubitsch) entwickelt. Aber selbst dann hält „Frantz“ noch Überraschungen bis zum Ende bereit.
Mit der Berlinerin Paula Beer, die im Alpen-Western „Das finstere Tal“ so eindrucksvoll eine Tirolerin spielte, hat sich Regisseur Ozon („Acht Frauen“) einen der heißesten Jungstars des europäischen Films geangelt. Wie sie diesen Film trägt, wie  sie mit nur wenigen Gesten im Gesicht ganz viel zeigt, das ist großes Kino. Pierre Niney (Titeldarsteller in „Yves Saint Laurent“) spielt ganz entzückend den geheimnisvollen Fremden Adrien, der erst nach und nach sein Geheimnis preisgibt. (bed)
Kinostart: 29. September 2016
Kinochancen: Potenzieller Arthaus-Hit
Gesamteindruck: Zu Herzen gehendes Drama, das sehr eindrucksvoll von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erzählt

 
„Spira Mirabilis“: Auf der Suche nach der Unsterblichkeit © Filmfest Venedig

Spira Mirabilis

Genre: Dokumentation
Regie: Massimo D’Anolfi & Martina Parenti (Italien)
Star-Faktor: Null
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
Perfektion und Unsterblichkeit: Damit beschäftigt sich das Kino seit Anbeginn. Aber selten so interessant und für den Zuschauer extrem fordernd wie in der Doku „Spira Mirabilis“. Diesen Begriff gibt es schon seit vielen hundert Jahren. In der Mathematik versteht man darunter perfekte geometrische Zeichungen, die Wunderspiralen.
Die Filmemacher Massimo D’Anolfi & Martina Parenti wagen etwas sehr Mutiges. Sie stellen Menschen vor, die entweder an etwas Perfektem oder am Unsterblichen forschen. Allerdings erklären sie das zu Beginn des Films mit keinem Wort. Auf den Zuschauer strömen völlig unkommentiert Bilder und Töne ein.
So rezitiert die französische Schauspielerin Marina Vlady Texte des Dichters José Luis Borges über die Unsterblichkeit. Es werden Figuren aus Marmor für den ewig nicht fertig werdenden Mailänder Dom bearbeitet. Der japanische Wissenschaftler Shin Kubota forscht an Quallen, die seiner Meinung nach unsterblich sind. Und die Schweizer Erfinder Felix Rohner und Sabina Schärer fertigen das Musikinstrument Hang, von dem sehr beruhigende Klänge ausgehen, die unter anderem auch in der Medizin eingesetzt werden.
Immer abwechselnd ist man bei diesen Menschen zu Gast. Erst am Ende des Films gibt es zumindest für den japanischen Forscher und seine Arbeit eine Erklärung.
„Spira Mirabilis“ ist in unseren Tagen, in denen man im Fernsehen und auch im Kino, oft  alles bis ins Detail erklärt bekommt, eine Herausforderung. Wenn nicht gar eine Zumutung. Mal ist der Film, zum Beispiel bei den Hang-Machern, sehr leise und melodisch. Dann wird in der Marmor-Werkstatt minutenlang ohrenbetäubender Lärm gemacht. Menschen bei der Arbeit zuzusehen, das kann man innovativ finden, es aber auch rundherum ablehnen.
Das Schöne an „Spira Mirabilis“: der Film überlässt es dem Zuschauer, ob man nach dem Verlassen des Kinos nun der Meinung ist, etwas mehr über die Unsterblichkeit zu wissen. Oder ob man einfach in Bereiche des Lebens schauen durfte, die einem normalerweise verschlossen sind. (bed)
Kinostart: Noch kein Termin
Kinochancen: Sehr gering, da dieser Film so überhaupt nicht den heutigen Sehgewohnheiten entspricht
Gesamteindruck: Ein mutiger, betörend schöner Film, auf den man sich einlassen muss




Interview
Ein Film für einen Kino-Tag
Der Regisseur Andrew Dominik drehte mit seinem Freund Nick Cave die Doku „One More Time With Feeling“, die beim Festival Venedig Weltpremiere hatte. FilmClicks sprach mit Dominik über die Hintergründe der Produktion. Mehr...