Goldene Palme: Kore-Eda Hirokazu (Japan), „Shoplifters“. Der Cannes-Siegerfilm 2018 passt sehr gut in unsere Zeit. „Shoplifters“ ist ein engagierter Film über die Frage, was uns heute Familie bedeutet und bei wem Kinder am besten aufgehoben sind.
Regisseur Kore-Eda Hirokazu erzählt von einer auf den ersten Blick ganz normalen Familie der japanischen Unterschicht. Vater und Mutter plus drei Kinder leben bei der Oma in ihrem kleinen Häuschen, das sie eigentlich nur allein bewohnen darf. Den Unterhalt bestreitet die Familie mit Diebstahl, also „Shoplifting“. Aber dann wird eines der Kinder verletzt und es kommt heraus, dass die Erwachsenen sich Kinder, die es anderswo schlecht hatten, geshopliftet (also gestohlen) haben.
Das Drama ist gemächlich bis behäbig erzählt. Hin und wieder schimmert mal ein Funken Hoffnung und Humor durch. Doch insgesamt muss man sagen, dass sich die Jury für die Goldene Palme wieder mal einen Film herausgepickt hat, der extrem gut gemeint ist. Die Besucherzahlen im Kino werden sich aber voraussichtlich in sehr engen Grenzen halten.
Großer Preis: Spike Lee (USA), „BlacKkKlansman“. Der ewige Provokateur Spike Lee hat sich für seinen neuen Film ein Thema ausgesucht, das wie ein groteskes Märchen klingt, jedoch auf realen Ereignissen beruht. In „BlacKkKlansman“ geht es um die wahre Geschichte des dunkelhäutigen US-Cops Ron Stallworth (John David Washington, Sohn von Denzel W.), der es in den 1970er Jahren schaffte, in seiner Heimatstadt Colorado Springs zum lokalen Chef des weißen und militant rassistischen Ku Klux Klan zu werden.
Spike Lee lässt „BlacKkKlansman“ als überdrehte Satire mit ernsten Einschüben beginnen. Dann macht der Film den Sprung zum spannenden Thriller, um schließlich in einem fulminanten Dokumentar-Finale zu enden. Fazit: Spike Lee hat mit einer Mischung aus analytischem Blick, Humor und Agitprop einen starken Film gemacht, der in den USA das Zeug zum kleinen Blockbuster hat und auch bei uns sein Publikum finden sollte.
Preis der Jury: Nadine Labaki (Libanon), „Capharnaüm“. Der Film mit dem biblischen Titel „Capharnaüm“ griff als einer der letzten in den Wettbewerb um die Goldene Palme ein und hinterließ ein wie vom Donner gerührtes Publikum. Regisseurin Nadine Labaki erzählt die Geschichte von Zain, einem zwölfjährigen Jungen aus bettelarmer Familie, der seine Eltern verklagt. Weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, ohne ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.
Nachdem die Eltern Zains elfjährige Schwester an einen lüsternen Macho verheiratet haben, haut der Knabe von zuhause ab und findet Unterschlupf bei einer Äthiopierin, die mit ihrem Baby in den Slums von Beirut lebt. Zain baut sofort innigen Kontakt zu dem Säugling auf. Doch eines Tages ist dessen Mutter spurlos verschwunden. Und Zein muss sich mit dem Kleinen allein in den Straßen von Beirut durchschlagen.
Das mündet in ein Drama voller Härte und Schrecken, zugleich aber auch voll Zärtlichkeit und Empathie. „Capharnaüm“ ist ein radikaler Film über das Schicksal von ganz armen Kindern, der eine zutiefst humanistische Botschaft transportiert. Wäre es nach dem Cannes-Publikum gegangen, hätte das Werk wohl die Goldene Palme gewonnen. Wir prophezeien schon jetzt: „Capharnaüm“ wird ein starker Kandidat für den Oscar des besten fremdsprachigen Films.
Beste Regie: Pawel Pawlikowski (Polen), „Cold War“. Die polnische Produktion „Cold War“ ist eine große Liebesgeschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte und mehrere Länder dahinzieht; alles vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in Europa.
Das Drama beginnt Ende der 1940er Jahre in Polen. Der Pianist und Dirigent Wiktor (Tomasz Kot) ist damit beauftragt, ein Folklore-Ensemble zusammenzustellen, das mit unverfälschter Volksmusik auf Tournee gehen soll. Unter den Kandidatinnen für den Chor ist die junge Zula (Joanna Kulig), an der nicht nur die Stimme bildschön ist. Der Dirigent und die Sängerin entflammen füreinander. Und sie werden nie wieder voneinander loskommen, auch wenn sich ihre Lebenswege zwischendurch trennen.
Autor/Regisseur Pawel Pawlikowski findet formal wie inhaltlich eindrucksvolle Lösungen für seinen Film. Mit eleganten Schwarz-Weiß-Bildern und dem ungewöhnlichen 4:3-Bildformat, das an alte TV-Filme erinnert, fällt „Cold War“ schon optisch aus dem Rahmen. Akustisch ebenso: Für einen Spielfilm gibt’s ungewöhnlich lange Musik-Sequenzen, in denen man mit hochklassiger Folklore, aber auch mit Jazz, Rock’n’Roll und südländischen Klängen verwöhnt wird.
Beste Darstellerin: Samal Yeslyamova (Kasachstan), „Ayka“. Die Kasachin Samal Yeslyamova spielt im Drama „Ayka“ von Sergej Dvortsevoy die Titelfigur einer jungen Frau, die aus ihrer Heimat nach Moskau gekommen ist, um dort ein Nähstudio zu eröffnen. Das Geld dafür hat sie sich bei der Mafia geborgt. Kann es allerdings nicht zurückzahlen, denn sie hat gerade ein Kind entbunden, das sie kurz nach der Geburt im Krankenhaus zurücklässt. Sie sucht nach Arbeit, sie bettelt um Geld. Und die Mafia ist ihr immer auf den Fersen.
Samal Yeslyamova ist in jeder Szene in diesem beinharten und winterkalten Drama zu sehen. Die Verzweiflung, sich nicht um ihr Kind kümmern zu können, bringt die 33jährige Schauspielerin meisterhaft auf den Punkt. Den Film mit langen Einstellungen und durchgehender Handkamera werden sich allerdings vorauissichtlich nur Hardcore-Arthaus-Fans anschauen.
Bester Darsteller: Marcello Fonte (Italien), „Dogman“. Marcello Fonte spielt in „Dogman“, dem neuen Film von Matteo Garrones („Gomorra“), einen Underdog, der in einem heruntergekommenen Industriegebiet irgendwo in Italien einen Salon für Hundepflege betreibt. Mit anderen Worten, er ist der Dogman des Filmtitels.
Mit viel Liebe und Hingabe widmet sich der Mann seinen Tieren. In der Freizeit kümmert er sich entweder um seine Tochter, die bei ihrer Mutter lebt. Oder er buhlt um die Anerkennung seiner zum Teil gewalttätigen Nachbarn. Aber der scheue Mann gehört nirgendwo dazu. Was ihm eines Tages, als er einen lokalen Gangster unterstützt, zum Verhängnis wird.
Marcello Fonte ist ein Geschenk für diesen Film, der vom reinen Menschen mit gutem Gewissen erzählt, der in unserer Welt scheitern muss. Fonte ist Quereinsteiger. Hatte bis vor ein paar Jahren mit dem Filmgeschäft nichts zu tun. Matteo Garrone macht ihn mit diesem Film zum Star - zumindest für einen Sommer. Dazu kann man nur gratulieren!
Spezial Goldene Palme: Jean-Luc Godard (Frankreich), „Le Livre d’Image“. Kinolegende Jean-Luc Godard war dieses Jahr in Cannes einerseits doppelt und andererseits gar nicht anwesend. Das offizielle Festivalplakat zeigte eine Szene aus seinem frühen Film „Pierrot le fou“; im Wettbewerb lief das jüngste Werk des 87-Jährigen; „Le Livre d‘Image“. Godard kam weder zur Premiere noch zur Preisverleihung.
Die Jury allerdings war vom neuen Godard-Film begeistert – so sehr, dass sie dem Altmeister eine spezielle und einmalige Goldene Palme für „seinen konstanten Versuch, das Kino neu zu definieren“ (Jury-Präsidentin Cate Blanchett) verlieh. „Le Livre d’Image“, von üblichen Erzählformen des Kinos weit entfernt, ist eine Collage von Zitaten aus Filmen, Nachrichten und anderen Bilderschnipseln, die in den letzten Jahrzehnten entstanden.
Bestes Drehbuch: Alice Rohrwacher (Italien), „Happy As Lazzaro“. Die italienische Filmemacherin Alice Rohrwacher modellierte mit „Happy As Lazzaro“ eine betörende Mischung aus realistischem Sozialdrama und mystischer Kino-Saga, die vielen Beobachtern als starker Kandidat für die Goldene Palme galt.
Der Film beginnt in den 1990er Jahren in der tiefsten Provinz, sozusagen am Ende der (italienischen) Welt, wo eine Großfamilie von Erntearbeitern wie in der Zeit der Sklaverei existiert: Die Menschen erhalten für ihre Schufterei auf der Tabak-Plantage eines reichen Clans keinerlei Lohn.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein besonders sanfter und duldender junger Mann, der von Alice Rohrwacher, der Autorin und Regisseurin, aus gutem Grund den Namen Lazzaro bekam. Im zweiten Teil wird der stille, aber eindringliche Film nämlich zu einer modernen Version der biblischen Lazarus-Sage. Nach einem tödlichen Sturz steht Lazzaro von den Toten auf und entwickelt fortan auf die Außenwelt eine geradezu magische Ausstrahlung.
Bestes Drehbuch: Jafar Panahi / Nader Saeivar (Iran), „3 Faces“. Der Iraner Jafar Panahi, der seit Jahren sein Land nicht verlassen darf, gehört seit einer gefühlten Ewigkeit zu den Festival-Lieblingen. Wann immer einer seiner Filme bei einem Filmfest auftaucht, bekommt er einen Preis zugesprochen. Dieses Mal für eine Geschichte, die in den Bergen an der iranisch-türkischen Grenze spielt.
Das Thema: Ein junges Mädchen will ihrem Leben ein Ende setzen, weil sie nicht Schauspielerin werden darf. Ihre Familie fühlt sich durch diesen Berufswunsch entehrt. Eine berühmte Schauspielerin, an die das Video des Freitodes der jungen Frau ging, macht sich nun mit Jafar Panahi (der sich wie immer selber spielt) auf den Weg in die Berge.
Dass Panahi fürs beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, macht Sinn, denn was er und seine Begleiterin dort in den Bergen für absurde - manchmal traurige und manchmal komisch - Geschichten erleben, das fußt zum großen Teil auf einem sehr gut geschriebenen Skript.
Die Preisträger von Cannes
Goldene Palme: Kore-Eda Hirokazu (Japan), „Shoplifters“
Großer Preis: Spike Lee (USA), „BlacKkKlansman“
Preis der Jury: Nadine Labaki (Libanon), „Capharnaüm“
Spezial Goldene Palme: Jean Luc Godard (Frankreich), „Le Livre d’Image“
Beste Regie: Pawel Pawlikowski (Polen), „Cold War“Beste Darstellerin: Samal Yeslyamova (Kasachstan), „Ayka“
Bester Darsteller: Marcello Fonte (Italien), „Dogman“
Bestes Drehbuch: Alice Rohrwacher (Italien), „Happy As Lazzaro“ sowie Jafar Panahi / Nader Saeivar (Iran), „3 Faces“
Goldene Palme für den besten Kurzfilm: Charles Williams (Australien), „All These Creatures“
Preis der Reihe Un Certain Regard: Ali Abbasi (Schweden) für „Gräns“
Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm: Lukas Dhont (Belgien), „Girl“
Preis der ökumenischen Jury: Nadine Labaki (Libanon), „Capharnaüm“