Festival Cannes 2018

Die neuen Gesichter von Cannes

11.05.2018
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Gala: „Cold War“-Regisseur Pawel Pawlikowski mit seinen Stars Joanna Kulig & Tomasz Kot © Katharina Sartena
Zwei Schwarz-Weiß-Filme, die viel Farbe in den Wettbewerb von Cannes bringen: Die Love Story „Cold War“ von Pawel Pawlikowski und der Musikfilm „Leto“ von Kyrill Serebrennikow entsprechen perfekt der neuen Linie des Festivals, mehr auf große Geschichten als auf große Stars zu setzen. Die beiden Regisseure nehmen erstmals am Rennen um die Goldene Palme teil, sind aber natürlich keine Unbekannten: Der Pole Pawlikowski gewann 2015 mit „Ida“ den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Und der renommierte, aber regimekritische Russe Serebrennikow kam in jüngster Zeit aus politischen Gründen in die Schlagzeilen. Er steht in Moskau wegen einer angeblichen Finanz-Affäre unter Hausarrest.    
„Cold War“: Eine große Liebe in der Zeit des Kalten Krieges © Filmfest Cannes

Cold War

Genre: Love-Story & Polit-Drama
Regie: Pawel Pawlikowski (Polen)
Star-Faktor: Gering. Bei Hauptdarstellerin Joanna Kulig könnte sich das aber rasch ändern
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
„Cold War“ ist eine große Liebesgeschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte und mehrere Länder dahinzieht; alles vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in Europa.
Das Drama beginnt Ende der 1940er Jahre in Polen. Der Pianist und Dirigent Wiktor (Tomasz Kot) ist damit beauftragt, ein Folklore-Ensemble zusammenzustellen, das mit unverfälschter polnischer Volksmusik auf Tournee gehen soll. Unter den Kandidatinnen für den Chor ist die junge Zula (Joanna Kulig), an der nicht nur die Stimme bildschön ist. Der Dirigent und die Sängerin entflammen füreinander. Und sie werden nie wieder voneinander loskommen, auch wenn sich ihre Lebenswege zwischendurch trennen.
Autor/Regisseur Pawel Pawlikowski findet formal wie inhaltlich eindrucksvolle Lösungen für seinen Film. Mit seinen eleganten Schwarz-Weiß-Bildern und dem ungewöhnlichen 4:3-Bildformat, das an alte TV-Filme erinnert, fällt „Cold War“ schon optisch aus dem Rahmen. Akustisch ebenso: Für einen Spielfilm gibt’s ungewöhnlich lange Musik-Sequenzen, in denen man mit hochklassiger Folklore, aber auch mit Jazz, Rock’n’Roll und südländischen Klängen verwöhnt wird.
Und die Love Story? Die Liebe zwischen Zula und Wiktor brennt kühl und heiß zugleich. Das innere Band zwischen den beiden mag unzertrennbar sein. Das äußere Band ist es nicht, weil Wiktor in den 1950er Jahren die Chance zur Flucht in den Westen ergreift. Und weil Zula, die ihm viel später nach Paris folgt, es dort nicht aushält. Was letztlich beide wieder zurück nach Polen bringt. Allerdings – schließlich tobt der Kalte Krieg – auf sehr schmerzhafte Weise.
So vermengt der Film private und politische Themen zu einem gediegenen und berührenden Drama. Für die famosen Hauptdarsteller könnte „Cold War“ das Fenster zu einer internationalen Karriere öffnen. Joanna Kulig gibt der Zula viel Eigensinn, Lebenslust, Humor und großes Gefühl. Tomasz Kot porträtiert Wiktor als sensible Künstlerseele mit viel Kreativität -  und dem Willen, seiner Geliebten auf ihren Wegen zu folgen.   bau
Kinostart: Noch kein Termin
Kinochancen: Potenzieller Arthaus-Hit
Gesamteindruck: Eine große Love Story, die gekonnt künstlerische und politische Aspekte in die Handlung integriert
 
„Leto“: Spannende Einblicke in die russische Rockszene der Achtziger Jahre © Filmfest Cannes

Leto
Genre: Musikfilm
Regie: Kyrill Serebrennikow (Russland)
Star-Faktor: Bei uns eher gering. In Russland ist einer der Hauptdarsteller, Roman Bilyk, ein angesagter Rockstar
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme 
Man wird „Leto“ wohl nie einfach nur als Film sehen können. Es wird immer der Film sein, dessen Regisseur Kyrill Serebrennikow nach dem letzten Drehtag festgenommen wurde und der seitdem in Moskau im Hausarrest (Verdacht der Veruntreuung von Fördermitteln - was er bestreitet) festsitzt. Das Festival Cannes hatte in Moskau nachgefragt, ob Serebrennikow nicht zur Premiere nach Cannes kommen könnte. Präsident Putin ließ ausrichten, der Mann sei in den Händen der Justiz und die wiederum sei in Russland unabhängig. Von diesem Spruch mag man halten, was man will. Man muss ihn erst einmal so hinnehmen.
Kyrill Serebrennikow jedenfalls darf während des Hausarrests so viel arbeiten, wie er möchte. Aber nur für zwei Stunden am Tag das Haus verlassen und dann auch nur Kontakt zu seinem Anwalt haben. Dem hat er Stück für Stück seinen neuen Film mit nach draußen gebracht. Die Geschichte von „Leto“ basiert auf dem Leben von Victor Tsoi, der in seinem kurzen Leben mit seiner Band Kino in der Sowjetunion und bis heute in Russland einer der größten Rockstars überhaupt gewesen ist.
Das größte Verdienst von „Leto“ ist, dass sich Kyrill Serebrennikow durch die Monate des Hausarrestes nicht dazu hinreißen ließ, einen nach allen Seiten austeilenden russlandkritischen Film zu machen. Es geht um Jugendliche und ihren Traum, in ihrer Welt ihren Platz zu finden. In Leningrad Anfang der 1980er Jahre hieß das, als angehende Rockstars, sich einer politisch dominierten Einstufungs-Kommission zu stellen, die jeden Text danach abklopfte, ob er eventuell gegen das System gerichtet sein könnte. Wer den Test bestand, durfte dann im Rock-Club auftreten. Wo die Fans beobachtet wurden, wo sie weder tanzen noch Plakate hochhalten durften. Nur mit den Füßen zucken war erlaubt.
Der (heute absurd anmutende) Alltag wird von Serebrennikow in aller Ruhe und Unaufgeregtheit geschildert. Die in Russland sehr populären Lieder Tsois werden angespielt. Aber die wahren Hingucker sind Klassiker von den Talking Heads oder Lou Reed. Die Lieder bekommen eine ganz eigene Optik. Wenn zum Beispiel ein ganzer Bus anfängt „The Passenger“ zu singen, werden Bilder im Comic-Stil übermalt, Figuren fangen zu fliegen, der Fantasie ist keine Grenze gesetzt - ein wunderbarer Film, der zum Träumen einlädt, wie es war, als man jung war und die Grenzen der Welt einreißen wollte.   bed
 
Kinostart: noch kein Termin
Kinochancen: Nicht schlecht. Wer die 80er miterlebt hat, wird diesen Ausflug garantiert genießen
Gesamteindruck: Sehr liebevoller Blick zurück in eine Epoche, als selbst in der Sowjetunion junge Menschen nicht länger die Weltrevolution anstrebten, sondern Punks sein wollten