Festival Cannes 2019

Ein Frauenfilm und ein Männerfilm

24.05.2019
von  Peter Beddies, Gunther Baumann
„Portrait Of A Lady On Fire“: Céline Sciamma mit Adèle Haenel und Noémie Merlant (v. re.) © Katharina Sartena
Ein Frauenfilm und ein Männerfilm: Zwei starke Produktionen in Cannes widmen sich traditionellen Geschlechterbildern, ohne auch nur ansatzweise klischeehaft zu wirken. In der Romanze „Portrait Of A Lady On Fire“ von Céline Sciamma geht es um die Liebe, und zwar um die Liebe unter Frauen. Männer kommen hier nur am Rande vor. Ganz anders im Mafia-Drama „The Traitor“:  Marco Bellocchio zeigt Männer, die mit mörderischen und juristischen Mitteln um Macht, Vermögen und Gerechtigkeit kämpfen. Beiden Filmen werden Chancen auf einen Preis im Wettbewerb zugebilligt.
Love Story: Noémie Merlant (l), Adèle Haenel in „Portrait Of A Lady On Fire“ © Festival Cannes

Portrait Of A Lady On Fire

Genre: Historiendrama
Regie: Céline Sciamma (Frankreich)
Stars: Adèle Haenel, Noémie Merlant, Valeria Golino
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
 
Die Französin Céline Sciamma ist für ihre raue ungeschminkte Art des Filmemachens bekannt. Besonders ihr Film „Tomboy“ über ein Mädchen in einem Jungenkörper wurde in den Arthäusern weltweit zum Erfolg.
Bei ihrem neuen Film „Portrait Of A Lady On Fire“ verschiebt sie die Grenze zwischen den Geschlechtern noch ein Stück weiter. Männer kommen hier nur vor, wenn mal Gepäck geschleppt werden muss. Ansonsten gibt es sie einfach nicht in diesem stillen Historiendrama, in dem viel von Verlangen und Etikette die Rede ist. 
Den Filmtitel „Portrait Of A Lady On Fire“ kann man doppeldeutig verstehen. Zum einen ist es der Name eines Bildes, das gleich zu Beginn gezeigt wird. Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) erzählt ihren Kunststudentinnen, wie es dazu kam, dass sie die Frau gemalt hat, deren Kleid in Flammen steht. Die eigentliche Geschichte spielt ein paar Jahre zuvor. 1770 wird Marianne auf eine einsame Insel gerufen. Dort soll sie ein Portrait von Héloise (Adèle Haenel) malen, der wilden Tochter der Comtesse (Valeria Golino). Dass Marianne und Héloise bald zueinander in Liebe entbrennen werden, daraus macht Sciamma kein Geheimnis.
Die Filmemacherin legt einige schöne Fährten der Ungewissheit. Der vorherige Maler durfte Héloise beim Zeichnen nicht betrachten. Sein Bild wurde teilweise zerstört. Marianne hat in den Nächten Visionen von Héloise als schneeweißem Gespenst. Aber im Kern erzählt Sciamma von einer lesbischen Liebe, die sich in aller Ruhe und Unaufgeregtheit entwickeln kann.
Besonders schön sind die Szenen geraten, in denen Marianne ihr Modell Héloise ein ums andere Mal beim Malen studiert. Beide Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt schon, dass sie sich zueinander hingezogen fühlen. Sie wollen oder können dies aber noch nicht zeigen. Ihr wunderbar zurückhaltendes Minenspiel – die Hauptdarstellerinnen Adèle Haenel und Noémie Merlant agieren grandios - verrät sie aber längst.   bed
Kinostart: noch kein Termin
Publikums-Chancen: Könnte sich im Arthaus-Sektor zum kleinen Hit entwickeln
Gesamteindruck: „Portrait Of A Lady On Fire“ ist eine fein gezeichnete lesbische Liebesgeschichte, in der Männer nicht vorkommen
 
„The Traitor“: Mafia-Boss Tommaso Buschetta (Pierfrancesco Favino) beim Prozess © Festival Cannes

The Traitor
Genre: Mafia-Drama
Regie: Marco Bellocchio (Italien)
Stars: Pierfrancesco Favino, Maria Fernanda Candido, Fausto Russo Alesi
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
 
Der Fall machte 1984 weltweit Schlagzeilen. Der sizilianische Mafia-Boss Tommaso Buschetta, der in Brasilien festgenommen und nach Italien ausgeliefert worden war, entschied sich, vor den italienischen Behörden auszupacken. Das machte es dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone möglich, Verfahren gegen 400 Mafiosi einzuleiten, von denen viele zu langjährigen Strafen verurteilt wurden. Die Mafia sann auf Rache. Giovanni Falcone wurde 1992 bei einem Bombenattentat getötet.
Regie-Altmeister Marco Bellocchio, 79, der sich immer wieder mal realen Ereignissen widmet, hat diese Geschichte nun in „Il Traditore“ („The Traitor“) fürs Kino aufbereitet. Sein Film ist ein Drama mit melodramatischen Zügen, das gelegentlich Thriller-Spannung erzeugt, aber auch sarkastischen Humor ins Geschehen packt (wenn die Urteile gegen  die Mafiosi verkündet werden, erklingt dazu der Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“).



Im Mittelpunkt steht natürlich die Titelfigur des Verräters, Tommaso Buschetta. Der italienische Schauspiel-Star Pierfrancesco Favino  legt den Gangster als klassischen Macho an, der die Frauen und seine Kinder liebt, aber keine Skrupel kennt, wenn es darum geht, Morde in Auftrag zu geben oder selbst auszuführen. Seine Schäfchen hat er längst im Trockenen. Als in Sizilien ein blutiger Mafiakrieg tobt, zieht er sich mit seiner Familie in ein luxuriöses Versteck nach Brasilien zurück.
Die zentralen Szenen des Films spielen nach Buschettas unfreiwilliger Rückkehr nach Italien. Im Gefängnis trifft der Mafiamann auf den Richter Falcone (Fausto Russo Alesi). Zuzuschauen, wie aus offener Feindschaft zwischen den Männern zunächst ein gewisses Vertrauen und dann fast so etwas wie Freundschaft entsteht, ist spannend und gewährt Einblicke ins Innere der Gangsterkartelle wie auch des italienischen Staates. Die Gerichtsverhandlungen mit den vielen erst selbstbewussten, dann aber immer kleinlauteren Angeklagten schwanken zwischen Dokudrama und Groteske.  
In Summe ist „The Traitor“ ein packender Film geworden, der die Fans von Mafia-Thrillern genauso anspricht wie die Freunde realistischer Geschichts-Lektionen. Marco Bellocchio inszeniert mit großer Wucht, auch wenn es dem Werk manchmal ein wenig an Struktur fehlt: Die Anzahl der handelnden Personen ist einfach zu groß. Aber, um es sarkastisch auszudrücken: Viele dieser Mafiosi haben nur wenig Leinwandzeit. Weil sie früher oder später von einem ihrer Gegner umgenietet werden.   bau
Kinostart: noch kein Termin
Publikums-Chancen: im Kino wie auch später im Fernsehen (Arte und ZDF sind an der Produktion beteiligt) recht passabel
Gesamteindruck: Blutiges, spannendes und realistisches Mafia-Drama