Festival Cannes 2017

Goldene Palme: Sieg für den Schweden Ruben Östlund und „The Square“

28.05.2017
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
„The Square“: Die Kunst-Groteske von Ruben Östlund wurde mit der Goldenen Palme ausgezeichnet © Festival Cannes
Die Goldene Palme des 70. Festivals von  Cannes geht an den schwedischen Regisseur Ruben Östlund und seine Kunstbetriebs-Groteske „The Square“. Bemerkenswert: Die Jury um Pedro Almodóvar, Will Smith, Jessica Chastain und „Toni Erdmann“-Regisseurin Maren Ade vergab sämtliche Preise an Filme und Filmkünstler aus Europa und den USA - das Kino aus Asien und anderen Weltregionen blieb diesmal unbelohnt. Der zweifache Goldene-Palme-Gewinner Michael Haneke zählte mit seinem neuen Film „Happy End“ nicht zu den Preisträgern.

Der Gewinner der Goldenen Palme: Ruben Östlund © Norsk Filminstitut

Goldene Palme:
Ruben Östlund (Schweden), „The Square“. Als Cannes-Siegerfilm des Jahres 2017 wurde von der Jury eine artifizielle und intellektuelle Satire ausgewählt, welche die Welt der bildenden Kunst als eine Art High-Life-Schabernack auf die Schaufel nimmt. Zentralfigur ist ein hochgestellter Museums-Kurator, der vor lauter Begeisterung über die eigene Bedeutung kaum laufen kann, aber unentwegt von einem Fettnapf in den nächsten springt.  
„The Square“ ist ein Film-Kunstwerk voller Pointen mit tieferer Bedeutung, das (wohl mit Absicht) eine Grundregel der Filmemacherei verletzt. Jene, dass die Konflikte, die in einer Story angerissen werden, auch bis zur Auflösung fertig erzählt werden müssen. Regisseur Ruben Östland tut das nicht. So sieht man zum Schluss, um Bertolt Brecht zu zitieren, den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Warum streitet der Kurator mit einer Geliebten für eine Nacht so massiv um die Frage, wer der beiden das Kondom entsorgen soll? Was ist der Sinn eines Happenings, bei dem ein halbnackter Athlet zum Catcher wird, der die Gäste bedroht? Was wurde aus dem Jungen, der dem Kurator eine bohrende Frage der Ehre stellte, aber keine Antwort bekam? „The Square“ verrät es nicht.  

Berührendes AIDS-Drama: „120 BPM (Beats Per Minute)“ © Festival Cannes

Großer Preis: Robin Campillo (Frankreich), „120 BPM (Beats Per Minute)“. Der Große Preis der Jury ist immer eine undankbare Sache. Letztes Jahr brach Xavier Dolan vor Enttäuschung fast in Tränen aus, als er in Cannes diesen Preis für „Nur das Ende der Welt“ bekam. Denn der große Preis der Jury bedeutet auch, dass man es fast zur Goldenen Palme geschafft hätte.
Der Franzose Robin Campillo stand am Sonntag in Cannes auch etwas verwirrt da mit seiner Auszeichnung. Der Jury-Präsident Pedro Almodóvar bekannte wenig später bei der Pressekonferenz der Juroren unter Tränen, dass Campillos „120 BPM“ sein Lieblingsfilm im Wettbewerb gewesen sei. Aber Juryarbeit ist demokratisch. Und so bekam der AIDS-Aktivisten-Film über eine Pariser Gruppe Anfang der 90er Jahre nicht den goldenen, aber den zweitwichtigsten Preis der Festivals.  

Bitteres Familiendrama mit Thriller-Elementen: „Loveless“ © Festival Cannes

Preis der Jury: Andrej Zvyagintsev (Russland), „Loveless“. Der russische Regisseur  Andrey Zvyagintsev hatte sich schon mit seinem letzten Film „Leviathan“ ins Gespräch für die großen Filmpreise dieser Welt gebracht. Sicher wird die Jury darüber diskutiert haben, Zvyagintsev die Goldene Palme zu verleihen. Denn „Loveless“ ist ein wunderbarer, wenn auch schwer zu ertragender Film.
Auf der einen Seite dieses Familiendramas stehen die egoistischen Eltern, die sich nach der Trennung nicht um ihren gemeinsamen Sohn. kümmern wollen/können. Auf der anderen Seite erlebt man, als das Kind plötzlich verschwunden ist, das komplette Versagen der Sicherheits-Behörden. Die mafiösen Verhältnisse in Russland werden hier schmerzhaft brillant bebildert.

Regie-Preis: Sofia Coppola © Tobis

Beste Regie: Sofia Coppola (USA), „The Beguiled“.  Der Regie-Preis für Sofia Coppola ist eine der Überraschungen im Cannes-Wettbewerb. Gewiss, die Filmemacherin schafft es, das Publikum mit dem sinnlichen Rache-Drama „The Beguiled“ („Die Verführten“) zu fesseln. Zugleich wirkt dieses Remake eines Films der Macho-Haudegen Don Siegel (Regie) und Clint Eastwood (Hauptrolle) aber eher routiniert als inspiriert.
Bei Sofia Coppola st es Colin Farrell, der als verletzter Soldat der Nordstaaten-Armee („The Beguiled“ spielt während des amerikanischen Bürgerkriegs) Aufnahme in einem Südstaaten-Mädchen-Internat erhält. Während sie den verwundeten Mann pflegen, entdecken die Damen im Internat, von der sittenstrengen Chefin (Nicole Kidman) über eine Lehrerin (Kirsten Dunst) bis zum Lolita-Vamp (Elle Fanning), dass ihnen die Nord-Süd-Gegnerschaft viel weniger bedeutet als die Aussicht auf eine Affäre. Und dämlich, wie Männer nun mal sein können, macht der Patient allen dreien schöne Augen. Was schreckliche Folgen für ihn hat…
„The Beguiled“ ist – auch dank des gloriosen Ensembles – ein gelungener Film, der gewiss im Kino sein Publikum finden wird. Ebenso gewiss gingen im Wettbewerb von Cannes aber Filme an den Start, die bedeutend subtiler inszeniert waren.     

Ein Preis für ihren ersten deutschsprachigen Film: Diane Kruger © Katharina Sartena

Beste Darstellerin: Diane Kruger (Deutschland), „Aus dem Nichts“. Ein wenig zwiegespalten dürfte der Hamburger Regisseur Fatih Akin am Sonntagabend gewesen sein. Als Diane Kruger, seine Hauptdarstellerin im Terror-Drama „Aus dem Nichts“,  auf die Bühne gerufen wurde, da ballte er die Hände und schien es in seinem schnieken Tuxedo (natürlich unrasiert, ein bisschen Rebell muss immer sein) kaum noch auf seinem Sitz auszuhalten. Diane war sprachlos über die Wahl zur besten Schauspielerin. Sie bedankte sich artig mehrsprachig bei ihrem Regisseur und dem Festival.
Der Preis geht sowas von in Ordnung. In keinem anderen Wettbewerbsfilm von Cannes 2017 hat eine Schauspielerin jede Szene so dominiert wie die oft unterschätzte Diane - ganz großes Kompliment! Aber war Fatih Akin wirklich zufrieden? Fakt ist: Schon zum zweiten Mal nacheinander war ein Film aus Deutschland ganz dicht dran an der Goldenen Palme. „Aus dem Nichts“ wird eine ähnliche Reise um die Welt – Oscar-Nominierung inklusive – bevorstehen wie letztes Jahr „Toni Erdmann“. 

Bester Darsteller: Joaquin Phoenix („You Were Never Really Here“) © Katharina Sartena

Bester Darsteller: Joaquin Phoenix (USA), „You Were Never Really Here“. Joaquin Phoenix spielt in Lynne Ramseys Thriller „You Were Never Really Here“ so gut wie seit Jahren nicht mehr. Allerdings ist es unfassbar brutal, wie er als Auftragskiller mit einer Axt loszieht und Menschen zu Tode prügelt. So was landete früher direkt auf Video oder DVD, wo es von zwielichtigen Menschen des Nachts angeschaut wurde.

Ein Spezialpreis für den Liebling von Cannes 2017: Nicole Kidman © Katharina Sartena

Spezialpreis zum 70jährigen Jubiläum des Festivals: Nicole Kidman (Australien/USA).   Nicole Kidman, gleich mit vier Filmen in Cannes vertreten, war schon bei ihren Auftritten am roten Teppich der Liebling der Fans und der Fotografen. Irgendwie hatten alle ihre Freude mit der Wandlung der Hollywood-Diva.
Trat sie in den letzten Jahren bei Festivals oft fahl und regungslos auf wie eine wandelnde Botox-Werbung, so erlebte man nun, kurz vor ihrem 50. Geburtstag am 20. Juni, eine ganz andere Nicole Kidman: heiter, unbeschwert und voller Temperament.
Dass die Jury nun ihren Spezialpreis an die Kidman verlieh, wird wohl keinen einzigen Besucher des Festivals empören. Sie hat das verdient. Nicht nur wegen ihrer guten Laune am roten Teppich. Sondern, vor allem, durch die feinen und höchst unterschiedlichen Frauenfiguren, die sie in ihren vier Festival-Filmen modellierte.    
 
Bestes Drehbuch: Yorgos Lanthimos (Griechenland), „The Killing Of A Sacred Deer“. Der Grieche Yorgos Lanthimos gehört seit den Anfängen seiner Filmkarriere zu den Lieblingen der Festival-Landschaft. Erst hat er daheim gefilmt. Dann wurden die Stars im Ausland auf ihn aufmerksam.
Nach dem Science-Fiction-Film „The Lobster”, den das Feuilleton liebte, ist nun „The Killing Of A Sacred Deer“ der erste große Wurf von ihm, der mit Stars wie Colin Farrell und Nicole Kidman prunkt und der völlig zu Recht mit dem Drehbuch-Preis ausgezeichnet wurde.
Denn der Grieche entfesselt ein Drama um Rache und Schuld, das sich Homer nicht besser hätte erdenken können. Ein Arzt hat einen Fehler gemacht – ein Patient starb auf seinem OP-Tisch – und soll nun eines seiner Kinder opfern, um Gerechtigkeit herzustellen. Grimmig, entschlossen und preiswürdig.
 
Bestes Drehbuch: Lynne Ramsay (Großbritannien),  „You Were Never Really Here“.  „You Were Never Really Here“ ist der wohl umstrittenste Beitrag dieses Cannes-Jahrgangs. Die Kuratoren haben schon genau gewusst, warum sie den Film ganz ans Ende des Wettbewerbs setzten, als viele Journalisten bereits abgereist waren.
Man kann Lynne Ramsays Thriller als feministische Gewalt-Parabel lesen. So sieht es also aus, wenn sich eine Filmemacherin in den kaputten Geist eines Ex-Elitesoldaten hineinversetzt. Darf also frau so etwas inszenieren und wird es dadurch zur Filmkunst?
 
Die Preisträger von Cannes
Goldene Palme: Ruben Östlund (Schweden), „The Square“
Großer Preis: Robin Campillo (Frankreich), „120 BPM (Beats Per Minute)“
Preis der Jury: Andrej Zvyagintsev (Russland), „Loveless“
Beste Regie: Sofia Coppola (USA), „The Beguiled“
Beste Darstellerin: Diane Kruger (Deutschland), „Aus dem Nichts“
Bester Darsteller: Joaquin Phoenix (USA), „You Were Never Really Here“Spezialpreis zum 70jährigen Jubiläum des Festivals: Nicole Kidman (Australien/USA)
Bestes Drehbuch: Yorgos Lanthimos (Griechenland), „The Killing Of A Sacred Deer“ und Lynne Ramsay (Großbritannien),  „You Were Never Really Here“

Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm: Léonor Serraille (Frankreich), „Jeune Femme“
Goldene Palme für den besten Kurzfilm: Qiu Yang (China), „A Gentle Night“
Preis der Reihe Un Certain Regard: Mohammad Rasoulof (Iran), „Lerd“
Regiepreis der Reihe Un Certain Regard: Taylor Sheridan (USA), „Wind River“

FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik: Robin Campillo (Frankreich), „120 BPM (Beats Per Minute)“
Preis der ökumenischen Jury: Naomi Kawase (Japan), „Hikari“