Wonderstruck
Genre: Drama
Regie: Todd Haynes (USA)
Star-Faktor: hoch (Julianne Moore und Michelle Williams sowie die hochbegabten Kids Oakes Fegley, Millicent Simmonds und Jaden Michael)
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
US-Regisseur Todd Haynes begeisterte das Publikum von Cannes 2015 mit der eleganten Love Story „Carol“, in der Cate Blanchett und Rooney Mara ein Paar wurden. In diesem Jahr sammelt er Ovationen für sein zauberhaftes Jugenddrama „Wonderstruck“, das zwei Zwölfjährige in den Mittelpunkt stellt und das obendrein, so Haynes, ein „großes Geheimnis“ birgt: „Warum besteht der Film aus zwei getrennten Geschichten, die 50 Jahre auseinanderliegen? Und wie finden diese Geschichten zueinander?“
Die Antworten auf die „Wonderstruck“-Fragen kennen all jene, die Brian Selznicks gleichnamigen Jugendbuch-Bestseller gelesen haben (Deutscher Titel: „Wunderlicht“). Allen anderen sei in der Aussicht auf einen formidablen-Kino-Abend nicht zu viel verraten.
Die erste Zeitebene führt in den US-Staat Minnesota im Jahr 1977. Der zwölfjährige Ben (Oakes Fegley), der seinen Vater nicht kennt und dessen Mutter (Michelle Williams) bei einem Verkehrsunfall stirbt, erleidet einen neuen Schicksalsschlag. Durch einen Blitz verliert er sein Gehör.
Nun soll er vor seinen Verwandten betreut werden, aber Ben haut ab. Mehr als alles andere in der Welt möchte er seinen Vater kennenlernen, und er hat beim Herumstöbern ein Indiz gefunden, wo der sein könnte. Ben macht sich auf den Weg nach New York.
Die zweite Zeitebene von „Wonderstruck“ liegt im Jahr 1927. Dort begegnen wir der zwölfjährigen Rose (Millicent Simmonds), die aus einer steinreichen Familie stammt und trotzdem nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen ist. Ihre Eltern leben getrennt, ihr Vater ist ein Despot und sie selbst ist gehörlos.
Rose flüchtet aus der Realität gern in die Phantasiewelt des Kinos. Ganz besonders verehrt sie eine Stummfilm-Diva namens Lilian Mayhew (Julianne Moore). Als sie in der Zeitung liest, dass ihr Idol bald am Broadway Theater spielen wird, türmt auch Rose aus dem Elternhaus. Sie will nach New York, um Lilian Mayhew zu besuchen.
Damit ist der Film komplett in New York angelangt. Einmal im eher geruhsamen Manhattan der Zwanziger Jahre (alle Szenen mit der kleinen Rose sind in Schwarz-Weiß gedreht), und einmal im wilden, chaotischen und gefährlichen New York des Jahres 1977 (Ben zieht durch eine knallbunte Stadt voller greller Farben).
Autor Brian Selznick und Regisseur Todd Haynes schicken also zwei Kids in den Big Apple, die dort Unmögliches meistern sollen. Ohne Geld, ohne Unterkunft und obendrein ohne Gehör treiben sie durch die Stadt, aus der sie sich nicht wieder vertreiben lassen wollen.
In einer atemraubend geschnittenen Schlüsselsequenz (der ganze Film ist visuell ein Fest für Cineasten!) ziehen Rose 1927 und Ben 1977 durch das Museum of Natural History in New York, und man spürt, dass ihre Schicksale verknüpft sein müssen, obwohl sie einander natürlich nicht begegnen können.
Wie dieses Rätsel dann gelöst wird, ist ungemein berührend, phantasie- und auch liebevoll. Manche Cannes-Beobachter nennen das Edelkitsch, doch wir sagen: „Wonderstruck“ ist ein phänomenal gescheiter und zugleich emotionaler Film darüber, dass es stets Sinn macht, nach seinem wahren Platz im Leben zu suchen. Und darüber, dass das Leben jene belohnt, die sich etwas trauen.
(bau)
Kinochancen: Sehr gut
Gesamteindruck: „Wonderstruck“ ist ein kleines Wunder von einem Film, dem man als erwachsener Zuschauer nie anmerkt, dass er auf einem Jugendbuch basiert.
Jupiter‘s Moon
Genre: Mystery-Thriller im Zeichen der Flüchtlingskrise
Regie: Kornel Mundruczo (Ungarn)
Starfaktor: nicht vorhanden
Cannes-Premiere: im Wettbewerb um die Goldene Palme
Der Ungar Kornel Mundruczo spielt sehr gern mit den Erwartungen der Zuschauer – der erste Blick kann oft täuschen. Auch in „Jupiter‘s Moon“ verwirrt der Regisseur den Zuschauer wieder auf sehr interessante Weise.
Zuerst sieht „Jupiter‘s Moon“ - gemeint ist jener Mond des Planeten, der Europa heißt - wie ein geradliniges Flüchtlingsdrama aus. Dutzende Migranten aus Syrien werden in Ungarn von der Polizei gestellt. Aryan Dashni (Zsombor Jeger) wird von einem Polizisten erschossen. Ende der Realität. Denn Aryans Körper weigert sich, zu sterben. Er erhebt sich in die Höhe und beginnt, über den Dingen zu schweben.
Die Geschichte vom Gottes-Sohn mal anders herum erzählt: Er stirbt nicht und bleibt auf unserer Welt. Dieser Jesus 2.0 überlebt einen Mord und hat fortan Superkräfte. In besonderen Momenten (einige davon sehr ansprechend gefilmt) hebt er ab in die Luft und steht über den Menschen. Aryan passt sich immer den Situationen an. Eine alte Frau begleitet er beim Sterben. Einem Neonazi zeigt er, wie die Hölle aussehen könnte. Einem schwerkranken Kind erscheint er als Engel.
In jedem Mystery-Film würde dieser besondere Typ nun angebetet oder verfolgt. Aber das geschieht in „Jupiter‘s Moon“ nur zum Teil. Ein fanatischer Polizist verfolgt ihn, weil er sich davon überzeugen will, dass es Phänomene gibt, die man nicht einfach so rational erklären kann.
Doch der Regisseur will mehr. Und führt deshalb die Figur des Doktor Stern (Merab Ninidze) ein, der eigentlich als Arzt im Flüchtlings-Camp arbeitet. Mit Aryan nun aber das ganz große Geschäft aufziehen will. Er will diesen neuen Heiland bei reichen Kranken fliegen lassen, um ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Dieser im Grunde genommen ziemlich wirre kleinkriminelle Charakter mit einem Herzen aus Gold weiß aber bald nicht mehr, was gut ist und was schlecht.
„Jupiter’s Moon“ ist ein interessanter Film – mit einem Manko: Kornel Mundruczo wirft in die zwei Kinostunden alles hinein, was ihm zum Thema einfällt. Von der Realität der Flüchtlinge über wilde Autojagden und Schießereien bis zu Diskussionen über Gott. Insgesamt zu viel gewollt. Aber das ist allemal besser als zu wenig.
(bed)
Kinochancen: potenzieller Arthaus-Erfolg
Gesamteindruck: märchenhafter Flüchtlingsfilm, der spielend die Grenze zwischen Realität und Fantasie überschreitet.
Okja
Genre: Umwelt-Abenteuer
Regie: Bong Joon Ho (Südkorea)
Starfaktor: hoch (Tilda Swinton, Jake Gyllenhaal, Paul Dano)
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
„Dies ist ein Film über den Kampf des Kapitalismus gegen unsere Liebe zur Natur und zur Umwelt“, sagt Jake Gyllenhaal über das prächtige Ökologie-Abenteuer „Okja“, das in Cannes einen starken Eindruck hinterließ.
Der Film beginnt mit dem exaltierten Auftritt der New Yorker Oligarchin Lucy Mirando (Tilda Swinton), deren Mirando-Konzern gigantische Schlachthöfe betreibt. Um etwas gegen die globale Lebensmittel-Knappheit zu tun, kündigt sie die Zucht von Super-Schweinen an, die viel größer werden und dementsprechend viel mehr Fleisch liefern sollen als ihre herkömmlichen Artgenossen.
Schnitt. Zehn Jahre später. Irgendwo in den abgeschiedenen Bergwäldern Südkoreas lebt die kleine Mija (An Seo Hyun) mit ihrem Großvater – und mit Okja. Dieses Wesen ist ein wahrer Koloss von einem Schwein. Groß wie ein Elefant, mutig, schlau und zärtlich zugleich. Mija und Okja sind die allerbesten Freunde.
Doch Okja ist eine der Kreaturen, deren Zucht vom Mirando-Konzern initiiert wurden. Der beordert die Super-Sau nun zurück in die USA. Der exaltierte Tierfilmer Dr. Johnny Wilcox (Jake Gyllenhaal) führt eine Expedition an, die Okja abholen soll – zu einem Leben in Gefangenschaft, das zwangsläufig im Schlachthof enden muss.
Der Fleischkonzern hat aber nicht mit dem Widerstand von Mija gerechnet. Das Mädchen verlässt ihr Berg-Idyll und macht sich auf den Weg, um Okja zu retten. Umwelt-Aktivisten, angeführt vom militanten Tierschützer Jay (Paul Dano), helfen ihr dabei. Die Reise geht von Südkorea bis nach New York.
Der koreanische Autor/Regisseur Bong Joon Ho, der zuletzt das faszinierende SciFi-Drama „Snowpiercer“ drehte, hat „Okja“ ganz bewusst als märchenhaftes Abenteuer konzipiert. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind scharf und grell gezeichnet; die Spielweise ist exaltiert bis hin zum Klamauk. Doch der Film schafft es mühelos, sein Publikum zu fesseln, was nicht zuletzt am herzerwärmenden Gespann von Mija und dem (im Trickcomputer entworfenen) Superschwein Okja liegt.
Der Film hätte also prima Chancen zu einem großen Publikums-Hit im Kino – wenn er denn ins Kino käme. Doch Produzent Netflix hat bereits angekündigt, dass dies in Europa nicht der Fall sein wird. „Okja“ soll im Juni exklusiv für die Netflix-Abonnenten freigeschalten werden. Diese Begrenzung auf ein beschränktes Publikum ist ein Jammer, weil der Film viel zu sagen hat und obendrein so opulent gedreht wurde, dass seine Qualitäten erst auf der großen Leinwand so richtig zum Tragen kommen.
(bau)
Kinochancen: keine, weil in Zukunft nur auf Netflix zu sehen
Gesamteindruck: Starker Umwelt-Thriller, bei dem einem die Lust auf den nächsten Schweinebraten gehörig vergeht.