Goldene Palme: Ken Loach („I, Daniel Blake“). Ken Loach, der Großmeister der Sozialdramen, schildert in seinem neuen Film das Schicksal eines älteren Mannes und einer jungen Mutter, die in England, konfrontiert mit einer unbarmherzigen Bürokratie, komplett durch das soziale Netz fallen. Titelheld Daniel Blake (Dave Johns) – ein Handwerker, der nach einem Herzinfarkt nicht mehr arbeiten kann – wird auf eine Odyssee geschickt, die sich Franz Kafka nicht hätte düsterer ausmalen können. Egal ob beim Arbeits- oder beim Sozialamt – überall erntet er Abweisung. Bis er völlig mittellos dasteht. Beistand erhält er nur von der jungen Katie (Hailey Squire), die auf einem ähnlichen Parcours aus der Lebensbahn geschleudert wird. Bis sie keine andere Chance mehr sieht, als sich als Callgirl zu verkaufen, um sich und ihre zwei Kinder durchzubringen.
Großer Preis:
Xavier Dolan („It’s Only The End Of The World“). Beim „Ende der Welt“ geht es um den schwulen Künstler Louis (Gaspard Ulliel), der nach zwölf Jahren mal wieder nach Hause zur Familie kommt. Er ist schwerkrank und weiß, dass er demnächst sterben wird. Deshalb möchte er sich von der Familie verabschieden. Mutter, Geschwister und Schwägerin erweisen sich freilich als unfroher Käfig voller Narren – so selbstfixiert, dass Louis schließlich wieder abreist, ohne von seiner Krankheit zu berichten. Regie-Wunderknabe Xavier Dolan versammelte einen tollen Cast mit Stars wie Marion Cotillard, Léa Seydoux und Vincent Cassel. Den Film setzte er freilich nach FilmClicks-Auffassung komplett in den Sand: „Der geschwätzigste Film des Jahres“.
Preis der Jury: Andrea Arnold („American Honey“). Die Engländerin Andrea Arnold drehte zum ersten Mal in den USA. Für ihr mit viel Musik unterlegtes, kraftvolles Drama „American Honey“ hat sie sich die Drücker-Kolonnen vorgenommen. Trupps von jungen Menschen, die durchs Land fahren und Abos für Zeitschriften an der Haustür verkaufen. Im Zentrum der Geschichte steht eine Newcomerin (Sasha Lane), die sich einer solchen Truppe anschließt und sich in deren Anführer, gespielt von Shia LaBeouf, verliebt. Ungefähr 90 Minuten schaut man dem Film sehr gern zu. Aber dann geht ihm die Luft aus. Eine Party reiht sich ans nächste Gespräch im Auto. Und bis zu seinem Ende braucht das Drama noch einmal 74 Minuten dazu. Kinochancen gleich Null. Bei ARTE im Spätprogramm gut aufgeboben.
Beste Regie: Olivier Assayas („Personal Shopper“). „Personal Shopper“ erzählt von der jungen Amerikanerin Maureen (Kristen Stewart), die für den exzentrischen Filmstar Kyra (Nora von Waldstätten) in Paris die Einkäufe erledigt. Zwischen dem Tütenschleppen von Cartier ins Appartement und wieder zurück zu Chanel verfolgt Maureen eine fixe Idee. Ihr Zwillingsbruder ist vor ein paar Monaten gestorben. Nun hofft sie, dass er sein Versprechen einhält und ihr Nachrichten aus dem Jenseits zukommen lässt. Olivier Assayas hatte sicher die allerbesten Ideen, als er diesen sehr ungewöhnlichen Arthaus-Grusel erdacht hat. Aber er bleibt leider nicht bei einer Geschichte. Von der Geister-Story geht es zum Thriller, dann zum Selbstfindungs- und Sinnsucherdrama, zurück zum Horrorfilm. Bis im Finale eine Szene wartet, die entweder zum intensiven Nachdenken oder zum Kopfschütteln einlädt.
Beste Regie: Christian Mungiu („Graduation“). Der rumänische Regisseur Christian Mungiu wurde 2007 zum neuen Stern am europäischen Film-Himmel, als er für das Drama „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“ die Goldene Palme gewann. Dieses Jahr kehrt er mit dem Regie-Preis heim aus Cannes. Sein neues Drama „Graduation“ ist ein subtil beobachtetes, packendes Drama über die allgegenwärtige Korruption in Rumänien. Die Story: Der Arzt Romeo Aldea versucht seiner Tochter Eliza beizustehen, die beim Schulabschluss Bestnoten braucht, um ein Stipendium in England zu bekommen. Als sich abzeichnet, dass Eliza den Einser-Abschluss nicht schafft, lässt sich der Vater von einem Bekannten zu diskreten Unsauberkeiten verleiten – bessere Noten gegen bessere Betreuung im Krankenhaus. Doch die Sache fliegt auf und bringt alle Beteiligten schwer in die Bredouille.
Bestes Drehbuch: Asghar Farhadi („Le Client“). Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi gewann 2011 mit dem Familiendrama „Nader und Simin – Eine Trennung“ den Goldenen Bär der Berlinale. So wie vor fünf Jahren erzählt er auch in seinem neuen Film „Le Client“ eine Geschichte aus dem modernen Teheran. Der Plot: Eine junge Frau, die die Wohnungstür offenlässt, weil sie ihren Mann erwartet, wird von einem Unbekannten überfallen und schwer verletzt. Ihr Ehemann (Shahab Hosseini, in Cannes zum besten Darsteller gewählt) versucht nun auf eigene Kraft, den Attentäter zu ermitteln und zu stellen. Der Film ist ein subtil konstruiertes und kluges Kammerspiel mit Thriller-Elementen. Obendrein lernt man in „Le Client“, dass das Leben im (noch) abgeschotteten Iran in vielerlei Hinsicht dem europäischen Alltag ähnlich ist.
Bester Darsteller: Shahab Hosseini („Le Client“). Text zum Film: siehe oben
Beste Darstellerin: Jaclyn Jose („Ma‘ Rosa“). Der philippinische Arthaus-Filmer Brillante Mendoza („Serbis“) geht gern dahin, wo es richtig weh tut. Seine Filme sind schrill und laut bis an die Schmerzgrenze. Und seine Heimat kommt nie gut dabei weg. In „Ma‘ Rosa“ erzählt er von Rosa (Jaclyn Jose), die sich mit Mann und Kind ein bescheidenes Leben in Manila aufgebaut hat. Da der Mini-Laden aber nicht genug Geld abwirft, vertickt Rosa nebenbei Drogen. Bis die Polizei sie erwischt und abführt. Von der Stelle an wird es richtig absonderlich. Denn den Beamten geht es keineswegs um Gerechtigkeit. Rosa soll ihren Dealer verraten. Und sich außerdem noch freikaufen. Korruption allüberall und mittendrin diese starke Frau, die versucht, sich ein bisschen Menschenwürde zu erhalten. Schwer zu ertragen dieser Film, aber es ist wichtig, dass über solche Missstände berichtet wird.
Kommentar. Die Cannes-Insider aus Filmszene und Presse vernahmen am 22. Mai einigermaßen verdattert, welche Filme und welche Künstler dieses Jahr mit Preisen bedacht wurden.
Die Probleme beginnen bei der Goldenen Palme: „I, Daniel Blake“ von Ken Loach ist zwar ein solides, ehrliches Sozialdrama, sticht aber kaum aus dem Gesamtwerk von Loach heraus. Xavier Dolan lieferte mit „It’s The End Of The World“ nach Meinung vieler Beobachter seinen bisher schlechtesten Film ab. Das Gleiche gilt auch für Olivier Assayas und „Personal Shopper“. Einzig Christian Mungiu (Regiepreis) und Asghar Farhadi (Drehbuchpreis) standen auch bei den Festival-Beobachtern ganz oben auf der Liste.
Dass die umjubelte Groteske „Toni Erdmann“ bei den Juroren komplett unbelohnt blieb, das stößt nicht nur in den Produzentenländern des Films, Deutschland und Österreich, auf Unverständnis und herbe Kritik. Doch „Toni Erdmann“ – der Film, der in der Kritikerwertung des Magazins „Screen International“ die höchste Bewertung erhielt, die jemals vergeben wurde – wird auch ohne Palme aus Cannes seinen Weg rund um die Welt machen.
Die Preisträger von Cannes
Goldene Palme: Ken Loach (Großbritannien), „I, Daniel Blake“
Großer Preis: Xavier Dolan (Kanada), „It’s Just The End Of The World“
Preis der Jury: Andrea Arnold (Großbritannien), „American Honey“
Beste Regie: Olivier Assayas (Frankreich), „Personal Shopper“ und Christian Mungiu (Rumänien), „Graduation“)
Bestes Drehbuch: Asghar Farhadi (Iran), „Le Client“
Bester Darsteller: Shahab Hosseini (Iran), „Le Client“
Beste Darstellerin: Jaclyn Jose (Philippinen), „Ma‘ Rosa“
Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm: Houda Benyamina (Frankreich), „Divines“
Goldene Ehren-Palme für das Lebenswerk: Jean-Pierre Léaud (Frankreich)
FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik: Maren Ade (Deutschland), „Toni Erdmann“