I, Daniel Blake. „Ich bin keine Sozialversicherungsnummer, auch kein Betrüger, erst recht kein Hund. Ich bin ein Bürger.“ So resümiert Daniel Blake (Dave Johns) sein Leben als Mittsechziger, das im England dieser Tage nicht mehr viel wert zu sein scheint.
In „I, Daniel Blake“, dem neuen Film des britischen Sozialdramen-Meisterregisseurs Ken Loach, geht alles schief, was nur irgendwie schief gehen kann. Schuld daran trägt der englische Staat, der seine Bürger im Kapitalismus 2.0 offenbar mehr und mehr vor die Hunde gehen lässt.
Daniel Blake hat 40 Jahre lang gearbeitet. Ein Herzinfarkt wirft ihn aus der Bahn. Die Ärzte meinen, er wäre eventuell in zwei Monaten wieder fit. Die Sozialämter aber sehen das ganz anders und lassen ihn ein Formular nach dem nächsten ausfüllen.
In „I, Daniel Blake“ wird der Titelheld auf eine Odyssee geschickt, die sich Franz Kafka nicht absurder hätte ausmalen können. Denn Blake bekommt, da er ständig widerspricht und einen Sinn im System sucht, ein ums andere Mal die Unterstützung gekürzt. Gegengeschnitten ist das Schicksal der jungen Mutter Katie (Hayley Squires), die es auch aus der Bahn geworfen hat. Am Ende steht sie besser da. Aber nur, weil sie bei ihrer neuen Tätigkeit ihre Ehre verkauft.
Nach diesem Film, den die Cannes-Jury, wie wir einmal voraussagen wollen, sicher mit einem Preis bedenken wird, stellt sich die Frage nach den Alternativen zur unbarmherzigen Sozial-Bürokratie englischer Prägung. Da war doch mal was? Der Sozialismus!
Sieranevada. Wie das verflossene System des Sozialismus heute noch in die Abläufe der Gesellschaft hineinreicht, zeigt der erste Film des diesjährigen Wettbewerbs um die Goldene Palme. „Sieranevada“ von Cristi Puiu erzählt vom Leben in Rumänien heute.
Die Grundsituation des Films: Lary, ein rumänischer Arzt, trauert um seinen Vater. Als würde eine Kamera zufällig bei einer Feier für den Verstorbenen dabei sein, schildert das Drama in knapp drei Stunden (die nach einem quälend langsamen Beginn immer faszinierender werden), wie die neue Zeit sich noch nicht entfalten kann, weil die Diskussionen um die alte noch nicht endgültig geführt wurden. Ein enorm anstrengender, aber sehr lohnender Film, der deutlich zeigt, dass der Sozialismus für die Zukunft keine Lösung sein kann.
Rester Vertical. Soll man es sich vielleicht doch in seiner eigenen kleinen kapitalistischen Welt gemütlich machen? Diesen Vorschlag greift der Franzose Alain Giraudie in seiner Groteske „Rester Vertical“ auf. Mitsamt der Erkenntnis, dass so ein Lebensentwurf grandios schief gehen kann, aber nicht muss.
Der Plot: Der Drehbuchautor Leo (Damien Binnard) ist auf der Suche nach der Idee für einen neuen Film. Bei einem Aufenthalt auf dem flachen Land wird er von einer Schäferin vernascht, die ihn dann mit dem neugeborenen Sohn sitzen lässt. Worauf ihm der Vater der Frau an die Wäsche will.
Viel Chaos, sehr interessant bebildert, mit ordentlich Sex und einer brutal gefilmten Geburtsszene versehen, dürfte „Rester Vertical“ wohl kaum eine Chance haben, in die Kinos zu kommen. Aber der Film setzt interessante Gedankenspiele frei, wie man im Jahr 2016 leben möchte.