Festival Cannes 2015

Zwei starke Filme über Frauen: „Carol“ und „Amy“

17.05.2015
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
Jubel um die „Carol“-Stars: Cate Blanchett, Regisseur Todd Haynes und Rooney Mara © Katharina Sartena
Festival Cannes: „Carol“ und „Amy“. Zwei Frauennamen, zwei Filme, zwei Frauenthemen. Beide Produktionen sind herausragend gut gelungen – und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Das Drama „Carol“ ist eine große Liebesgeschichte mit Cate Blanchett. „Amy“ erzählt die ebenfalls große, aber zugleich sehr traurige Geschichte der herausragenden Sängerin Amy Winehouse, die mit 27 Jahren starb, weil sie den inneren Dämonen, die in ihr wüteten, unterlag.
Begegnung voll Intensität: Rooney Mara (li.) und Cate Blanchett in „Carol“ © Festival Cannes

„Carol“

Genre: Drama. Regie: Todd Haynes (USA). Star-Faktor: Sehr hoch (Cate Blanchett, Rooney Mara). Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme.
Hinreißende Schauspielerinnen, gloriose Sets, elegante Bilder: US-Regisseur Todd Haynes („Velvet Goldmine“) hat mit „Carol“ einen ausgesprochen edlen Film gedreht. Gäbe es eine Goldene Palme für den schönsten Film – sie wäre Haynes nicht zu nehmen.
Die prächtige Fassung liefert den Rahmen für eine neue Version einer der ältesten Storys, die der Film zu erzählen hat. „Carol“ ist eine Liebesgeschichte. „Boy Meets Girl“, nennt man das Genre in Hollywood. Nur, dass hier eine bedeutsame Kleinigkeit anders ist. „Girl meets Girl“. Cate Blanchett spielt die Titelfigur Carol, eine bildschöne und kluge Dame der New Yorker Gesellschaft. Ihre Leidenschaft entflammt, als sie der jungen, scheuen und etwas spröden Therese (Rooney Mara) begegnet.
Wie sinnlich und sensibel hier der Zauber des ersten Blicks eingefangen wird, das ist ein Meisterwerk aller drei Beteiligten: Blanchett, Mara und Regisseur Haynes. Carol und Therese wissen schon in diesem Moment, dass sie ihre Zuneigung ausleben wollen. Und sie wissen auch, dass sie dadurch einen schweren Weg auf sich nehmen.
Denn „Carol“ spielt 1953 – zu einer Zeit also, als die gleichgeschlechtliche Liebe noch ein schweres Tabu ist. Carol gerät, wegen des Sorgerechts für ihre Tochter, in heftige Turbulenzen mit ihrem Mann, von dem  sie sich gerade scheiden lässt. Therese muss den jungen Mann verabschieden, der sich ein gemeinsames Leben mit ihr und auch schon die Ehe ausmalt.
„Carol“ basiert auf dem gleichnamigen Roman, den Patricia Highsmith, die als Thriller-Autorin weltberühmt wurde, schon 1950 schrieb. Highsmith hielt den Text erst einmal unter Verschluss, weil sie ihre lesbischen Neigungen nicht preisgeben wollte.
Doch im Buch und jetzt auch im Film lassen Carol und Therese ihrer Leidenschaft freien Lauf. Todd Haynes inszeniert diese Liebe so einfühlsam und berührend, dass man als Zuschauer automatisch zum Verbündeten der beiden Damen wird. Vor allem dann, wenn Männer alles versuchen, die Zweisamkeit zu zerstören.
In Summe ist diese Highsmith-Verfilmung ein nahezu perfektes Filmkunstwerk, das im Rennen um die Goldene Palme eine wichtige Rolle spielen könnte. Und es ist nicht auszuschließen, dass Cate Blanchett und Rooney Mara im kommenden Winter noch zu Rivalinnen werden. Im Oscar-Rennen. Beide formen ihre Filmfiguren mit so viel Souveränität und Sinnlichkeit, dass sie eine Oscar-Nominierung verdient hätten.
Kino-Chancen: Hoch. Potenzieller Arthaus-Hit. Gesamteindruck: Großes Gefühlskino von erlesener Pracht.        

Amy Winehouse in „Amy“: Kreativ und energiegeladen auf der Bühne © Festival Cannes

„Amy“
Genre: Musik-Doku. Regie:Asif Kapadia (Großbritannien). Starfaktor: sehr hoch (Amy Winehouse). Cannes-Premiere: außer Konkurrenz / Mitternachtsprogramm.

An das Sterben von Amy Winehouse dürfte sich wohl jeder Musikfreund noch erinnern. An das öffentliche Leiden, das Ihrem viel zu frühen Tod im Juli 2011 vorausging, auch. Aber wer war die Frau mit einer der größten Jazz-Stimmen des frühen 21. Jahrhundert? Was und wer hat sie geprägt, und warum war sie dem Druck der Öffentlichkeit nicht gewachsen?
Der britische Regisseur Asif Kapadia, der mit der packenden Formel-1-Doku „Senna“ bekannt wurde, stellt viele dieser Fragen und findet selbst für beinharte Amy-Fans noch neue Aufnahmen, brisante Informationen. Vor allem aber, so Kapadia beim FilmClicks-Interview in Cannes, ging es ihm um eines: „Als wir mit unserem Projekt anfingen, sagte ein Produzent zu mir, ob es denn nötig wäre, einen Film über ,diese Abhängige‘ zu machen. Für den Typen und alle anderen - auch jene, die irgendwann mal über Amy lachten -, haben wir uns bemüht, ein Bild von Amy, dem einfachen Londoner Mädchen mit der außergewöhnlichen Stimme, zu zeichnen”.
Der Film besteht fast ausschließlich aus Videos und Fotos. Zum Teil sind es öffentliche Aufnahmen, zum Teil stammen sie von Amys Familie oder Freunden. Während der Zuschauer mit diesen Bildern durch das kurze Leben der Sängerin geführt wird, erinnern sich Freunde und Weggefährten an sie. Sie sind jedoch nicht als „Talking Heads“ zu sehen. Asif Kappida hat Hunderte Stunden Interviews geführt. Aber als Audio-Interviews, die nun unter den Bildern liegen.
Das ist eine ausgezeichnete Idee, die dem ganzen Film einen wunderbaren Fluss gibt. Überhaupt, der Umgang mit Amys Musik ist hervorragend. Es sind natürlich all ihre Hits zu hören. Aber meist mit Verweis auf die Texte, die bei Amy Winehouse ständig extrem persönlich waren. Die Hits laufen, im Bild kann man die Texte mitlesen und aus der erzählten Geschichte geht hervor, um welche Episode in ihrem Leben es sich gerade handelt und warum sie zum Beispiel „Back in Black“ geschrieben hat.
Entstanden ist ein Film, so Produzent James Gay-Rees zu FilmClicks, „der zeigt, welche Perle wir da in England hatten. Wir hatten eine wunderbare Künstlerin und haben sie unter Umständen - die Frage darf sich jeder selbst stellen - nicht genügend unterstützt.“
Mitch Winehouse, der im Film von den Freunden der Sängerin eine nicht unerhebliche Mitschuld am Tod seiner Tochter Amy zugewiesen bekommt, hat sich nach dem Anschauen des Films übrigens von dem Projekt zurückgezogen. Rechtliche Konsequenzen dürfte dies nicht haben: „Amy“ soll am 17. Juli bei uns im Kino starten.
Kinochancen: Sehr gut, da auch die Fans von Amy Winehouse viel Neues erfahren. Gesamteindruck: Ungemein packende Doku, bei der man ständig die Hits mitpfeifen möchte, es aber nicht kann, weil Amys traurige Lebensgeschichte zum Heulen schön erzählt ist.