Festival Cannes 2015

Dunkle Woody-Komik, Sci-Fi-Unfug und ein erster Palmen-Kandidat

15.05.2015
von  Gunther Baumann, Peter Beddies
„The Irrational Man“: Woody Allen mit seinen Stars Emma Stone und Joaquin Phoenix © Festival Cannes
Erst schritten Woody Allen und Emma Stone über den Roten Teppich. Später folgten Rachel Weisz, Colin Farrell und Léa Seydoux: Das Festival Cannes prunkte auch am 15. Mai mit großen Namen. Woody Allens neue Komödie „The Irrational Man“ lief außer Konkurrenz. Weisz/Farrell/Seydoux sind hingegen im Wettbewerb am Start, als Darsteller des Dramas „The Lobster“ von Yorgos Lanthimos. Im Rennen um die Goldene Palme etablierte sich ein kleiner, grandioser und bedrückender Film aus Ungarn als erster Favorit. „Der Sohn von Saul“  von Laszlo Nemes spielt in der Todeszone von Auschwitz.
Woody, der Pessimist. Woody Allen ließ wieder einmal freudvoll dem Pessimisten in sich freien Lauf. „Filme zu machen, das ist eine wundervolle Ablenkung von der Sinnlosigkeit unseres Lebens, in dem jeder stirbt und alles verschwindet“, sagte er im Pressegespräch zu „The Irrational Man“, seiner neuen, dunklen Komödie. „Wenn ich einen Film mache oder einen Film anschaue“, so der zeitlos agile 79-Jährige weiter, „dann muss ich nicht an den Tod denken oder daran, dass ich eines fernen Tages alt sein werde.“

Verführung: Rita (Parker Posey) lockt Abe (Joaquin Phoenix) © Festival Cannes

In „The Irrational Man“ schickt Woody einen mürrischen Philosophieprofessor namens Abe (Joaquin Phoenix) an den Start, der so wie Allen am Sinn des Seins zu zweifeln scheint. Zwar wird der attraktive, melancholische Mann gleich von zwei Schönheiten angebaggert – die Professorin Rita (Parker Posey) lockt ihn ebenso ins Bett wie die Studentin Jill (Emma Stone) -, doch das kann seine Trübsal nicht mindern. Denn die Beschäftigung mit Kant, Heidegger und anderen großen Denkern hat in ihm eine deprimierende Vermutung reifen lassen: „Philosophie ist Masturbation!“
 
Gift. Abe findet erst zu neuer Kraft zurück, als ein sehr abseitiger Plan in ihm reift. In einem Café hört er zufällig mit, wie eine Frau über ihren Mann herzieht, der die Scheidung und außerdem das Sorgerecht für die Kinder will. Der gar nicht fromme Wunsch der Dame: „Ich wollte, er kriegt Krebs!“  Die Klagen der Unbekannten wecken Abes Mitgefühl: Er fasst den Plan, den (ihm ebenfalls unbekannten) Ehemann, einen Richter, zu vergiften…
 
Woody Allens Kommentar : „Jeder Mensch braucht etwas, woran er glaubt, damit sein Leben eine Bedeutung bekommt. Für Joaquins Filmfigur ist das die irrationale Entscheidung, der Frau zu helfen. Andere wenden sich der Religion zu und glauben, sie werden im Himmel landen, wenn sie ein gutes Leben führen. Das ist genauso verrückt wie das, was Joaquin tut.“
 
Na, sei’s drum. „Irrational Man“ ist jedenfalls ein unterhaltsamer Film, der als Männerphantasie beginnt (Ein Mann! Zwei Frauen!) und dann von der dunklen zur rabenschwarzen Komödie mutiert. Und es ist ein Film, an den man sich definitiv erinnern wird, bevor man das nächste Mal einen Lift besteigt.  
 
The Lobster. Ob sich jenseits des Festival-Zirkus viele Menschen an das Drama „The Lobster“ erinnern werden, das ist trotz Star-Besetzung mit Colin Farrell und Rachel Weisz schwer die Frage. Dem griechischen Filmemacher Yorgos Lanthimos gelang es, einen Elite-Cast für eine schräge Story zu interessieren, die auf den ersten Blick durchaus charmant klingt.

„The Lobster“: Die Stars Rachel Weisz und Colin Farrell in Cannes © Katharina Sartena

Der Plot: In einer nicht näher benannten Zukunft herrscht Paarungspflicht. Wer es vorzieht, als Single zu leben, muss in ein Hotel einchecken, aus dem es nur dann ein Entrinnen gibt, wenn man bald einen Partner vorweisen kann. Findet man den nicht nach 45 Tagen, wird man in ein Tier seiner Wahl verwandelt und in einen Wald entlassen. Das zumindest wird den Bewohnern des Hotels erzählt.
 
Was Yorgos Lanthimos aus dieser Idee macht, ist verkopfte Langeweile pur. David (merkwürdig schaumgebremst: Colin Farrell) zieht eines Tages im Hotel ein. Dort entscheidet er sich, als Tier ein Lobster zu werden. Als er aber entdeckt, dass im Hotel schreckliche Dinge passieren, flüchtet er in den Wald, wo er auf andere Menschen aus dem Hotel trifft. Die leben dort unter der Knute einer kleinen Diktatorin, gespielt von Léa Seydoux.
 
David sitzt lange im Wald und irrt dann durch eine seelenlose Stadt, wo er sich in Rachel Weisz (Rollenname: Die kurzsichtige Frau) verliebt. Was in der Waldgesellschaft wiederum verboten ist. Die Quintessenz? Statt Drama und Action gibt es in „The Lobster“ ständig dieselbe klassische Musik, die vor sich hindräut. Und dazu exzellente Schauspieler, die ebenso wenig wie der Zuschauer auch nur im Ansatz verstehen, worum es bei diesem Sci-Fi-Unfug gehen soll.
 
Dass es „The Lobster“ im Cannes-Wettbewerb weit bringen wird, darf bezweifelt werden. Mit dem packenden und schockierenden ungarischen Drama „Der Sohn von Saul“ von Laszlo Nemes war hingegen bereits ein echter Palmen-Kandidat am Start.

Eindringlich: Geza Röhrig als Saul Ausländer in „Der Sohn von Saul“ © Festival Cannes

Der Sohn von Saul. Regisseur Laszlo Nemes geht in „Der Sohn von Saul“ direkt dahin, wo niemand gern hinschaut. Zu den Gaskammern und den Verbrennungsöfen von Auschwitz im Herbst 1944. Es regt sich Widerstand unter den Häftlingen. Man munkelt von Aufstand. Waffen werden organisiert. Das alltägliche Geschäft jedoch sieht so aus, dass ein Sonderkommando jeden Tag Furchtbares tun muss.

Die (jüdischen) Männer des Kommandos, gekennzeichnet mit einem großen roten Kreuz auf ihrem Rücken, treiben Neuankömmlinge in einen Duschraum, versprechen ihnen anschließend etwas Ruhe und eine heiße Suppe. In Wahrheit kommen die Menschen qualvoll im Gas um, während die Männer der Sonderkommandos direkt hinter der Tür stehen und dem tausendfachen Sterben zuhören müssen. Im Anschluss müssen sie die Leichen zu den Verbrennungsöfen schaffen.

Mitten in dieser Hölle befindet sich Saul Ausländer (Geza Röhrig). Der Jude versucht, allem Ärger aus dem Weg zu gehen, nirgendwo anzuecken. Aber dann entdeckt er eines Tages einen Jungen unter den Toten, den er als seinen Sohn erkennt. Das weckt in ihm die nötige Portion Courage, um zu rebellieren. Saul versteckt den Leichnam und will ihn nach jüdischem Ritus bestatten.

Laszlo Nemes inszeniert die KZ-Hölle in einer unglaublich beeindruckenden Art. „Ich wollte keinen klassischen Film drehen, keinen Spielfilm über die Konzentrationslager“, sagte er in Cannes. „Wir wollten das Sichtfeld der Zuschauer beschränken und diese Umgebung, die Hölle aller Höllen, nicht explizit zeigen. Was außerhalb des sichtbaren Bildes geschieht, bleibt der Vorstellungskraft der Zuschauer überlassen.“

Um dieses Ziel zu erreichen, wählte Nemes ein quadratisches Bildformat, das immer ganz nah an Saul und den anderen Hauptfiguren bleibt. Das Morden und die Qual rundum ist nie zu sehen, aber wie in einem apokalyptischen Hörspiel zu hören.

Meisterwerk. Es kommen immer wieder die unterschiedlichsten Sprachen vor. Befehle werden gebellt (irgendwann klingt die deutsche Sprache nur noch hässlich). Es wird geschlagen und geschossen. Man fühlt sich mittendrin in diesem Wahnsinn, der sich mit Worten so schwer beschreiben lässt. Ein meisterhafter Film, der sich mühelos in die großen Werke zum Thema Holocaust wie Claude Lanzmanns „Shoah“ einreiht.