Goldene Palme. Die Jury um Jane Campion, Sofia Coppola und Willem Dafoe entschied sich für Nuri Bilge Ceylan und sein bildgewaltiges Drama „Winter Sleep“, das auf Motiven des russischen Schriftstellers Anton Tschechow basiert. „Winter Sleep“ ist ein gut dreistündiger Film, der nicht nur den aufgeschlossenen Arthaus-Zuschauer braucht, sondern auch all seine Geduld. Mit anderen Worten, es ist ein Kunst-Film, der – überspitzt ausgedrückt - im Kino Tausend Besucher haben wird, von denen Dreihundert im Anschluss ihr Eintrittsgeld zurückhaben wollen.
Großer Preis. Ein Bienenzüchterdrama, das niemand auf der Rechnung hatte, erhielt den Großen Preis des Festivals. Die Italienerin Alice Rohrwacher schildert in „Le Meraviglie“ (zu deutsch: „Die Wunder“) das Leben einer Aussteiger-Familie, die sich der Bienenzucht verschrieben hat. Ein angenehmer, aber auch unspektakulärer Film über die Schönheiten, aber auch die Schwierigkeiten einer Art von Landleben, die vom Aussterben bedroht ist.
Preis der Jury. Die Enttäuschung stand Xavier Dolan ins Gesicht geschrieben, als er für seine radikale und begeisternde Familiengeschichte „Mommy“ nur den Preis der Jury bekam. Trotzdem bedankte sich der Kanadier artig und weinte sogar ein wenig, als er Jury-Präsidentin Jane Campion für ihr Meisterwerk „Das Piano“ aus dem Jahr 1993 dankte – dies sei der erste Film gewesen, der tiefen Eindruck bei ihm hinterließ. Der 25-jährige Dolan bekam den Preis der Jury nicht allein. Auch der 83-jährige Altmeister Jean-Luc Godard, der bei der Cannes-Gala nicht anwesend war, wurde für sein Kino-Essay „Adieu au langage“ mit diesem Preis ausgezeichnet.
Beste Regie. Es ist ein gutes Jahr für das amerikanische Kino in Cannes. Nachdem viele Jahre die Auszeichnungen in dieser Kategorie in Europa blieben, geht der Preis für die beste Regie an Bennett Miller für sein Ringer-Drama „Foxcatcher“. Der Film mit Channing Tatum, Mark Ruffalo und Steve Carell erzählt bewegend, aber nicht sehr innovativ, vom Leben des US-Sportlers David Schultz, 1984 Goldmedaillen-Gewinner im Ringen, der 1996 von seinem Sponsor John DuPont (aus der gleichnamigen Industriellen-Dynastie) erschossen wurde.
Beste Darsteller. Keiner schmatzt sich so wunderbar durch Filme wie der Engländer Timothy Spall. Spätestens seit „Harry Potter“ ist der Charakter-Mime auch beim großen Publikum bekannt. In Cannes wurde er für sein unglaublich intensives Spiel als der legendäre Landschaftsmaler William Turner in Mike Leighs „Mr. Turner“ als bester Darsteller ausgezeichnet. Bewegt nahm Spall, der sich selbst als „dummer alter Narr“ bezeichnete, in einer minutenlangen Rede, die er zum Teil vom iPhone ablas, den Preis entgegen.
Und auch bei der besten Darstellerin war der Jubel gross. Denn der Preis geht an Julianne Moore, die sich in David Cronenbergs meisterlicher Hollywood-Farce „Maps to the Stars“ in der Rolle einer verzweifelten, weil allmählich alternden Schauspielerin mit vielen Allüren eindringlich für die nächste Oscar-Verleihung empfohlen hat.
Bestes Drehbuch. Der Preis für das beste Drehbuch im Cannes-Wettbewerb (zumindest nach Ansicht der Jury) landet 2014 in Russland. Oleg Negin und Andrej Zvyagintsev – letzterer ist auch der Regisseur – wurden für „Leviathan“ ausgezeichnet. Der Film, eine Mischung aus Polit-Thriller und existenzialistischem Drama, handelt von der Ohnmacht des Einzelnen, wenn sich die korrupte Staatsmacht gegen ihn stellt.
Fazit. Der Jahrgang 2014 von Cannes geht als keiner der ganz großen in die Geschichte ein. Bleiben wird auf jeden Fall der Eindruck, dass ein 25 Jahre altes Talent aus Kanada (nämlich Xavier Dolan mit „Mommy“) all die alten Männer der Arthaus-Weltkinos wahrhaft alt aussehen lässt. Vielleicht nimmt dies das Festival als ein Zeichen und setzt stärker auf junge, unverbrauchte Filmtalente.
Nicht unerwähnt sollen jene Filme des Wettbewerbs bleiben, die ebenfalls eine Auszeichnung verdient hätten, bei der Preisverleihung aber leer ausgingen. Hollywood-Star Tommy Lee Jones imponierte als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in „The Homesman“ – einem Western. Die Belgier Luc und Jean-Pierre Dardenne, zweifache Goldene-Palme-Gewinner, legten mit „Deux jours, une nuit“ einmal mehr ein meisterliches Sozialdrama vor, in dem Oscar-Gewinnerin Marion Cotillard in der Rolle einer Arbeiterin brillierte. Der Franzose Olivier Assayas schuf mit „Sils Maria“ ein blitzgescheites und bewegendes Drama über das Wesen der Kunst, in dem Juliette Binoche und Kristen Stewart glänzen. All diese Filme werden im Kino ihr Publikum finden.
Und dann wäre da noch „Timbuktu“ von Abderrahmane Sissako. Schon gleich zu Beginn des Festivals war der schönste und zugleich erschreckendste Beitrag zum Thema Weltkino zu sehen. Der mauretanische Regisseur Sissako erzählt schonungslos von Gotteskriegern, die brutal versuchen, die Sharia umzusetzen. Es darf weder gesungen noch getanzt werden. Und auch Fußballspielen ist verboten. Also spielt man ohne Ball. Eine unvergessliche Szene und ein großer, großer Film. Doch auch „Timbuktu“ ist leider in Cannes ohne Preis geblieben.
Alle Cannes-Preisträger auf einen Blick
Goldene Palme: Nuri Bilge Ceylan (Türkei), „Winter Sleep“.
Großer Preis: Alice Rohrwacher (Italien), „Le Meraviglie“.
Preis der Jury: Xavier Dolan (Kanada), „Mommy“ & Jean-Luc Godard (Schweiz), „Adieu au Langage“.
Beste Regie: Bennett Miller (USA), „Foxcatcher“.
Beste Darstellerin: Julianne Moore (USA), „Maps to the Stars“.
Bester Darsteller: Timothy Spall (Großbritannien), „Mr. Turner“.
Bestes Drehbuch: Oleg Negin & Andrej Zvyagintsev (Russland), „Leviathan“.
Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm: Samuel Theis, Claire Burger & Marie Amachoukeli (Frankreich), „Party Girl“.