„Wir lieben ungewöhnliche Geschichten“
04.12.2017
Interview:
Gunther Baumann
Sie sind die Köpfe hinter dem neuen Animations-Superhit „Coco“. Regisseur Lee Unkrich und Produzentin Darla K. Anderson zogen im Disney-Pixar-Studio die Fäden bei dem Trickfilm, in dem ein Junge aus Mexiko unverhofft im Land der (recht fidelen) Toten landet. FilmClicks traf Unkrich und Anderson zum Interview in Berlin. „Wir wollen Geschichten erzählen, die noch niemand kennt“, sagt der Regisseur über die Story des Films. Der Erfolg gibt ihm, wie so häufig bei Pixar („Findet Nemo“, „Alles steht Kopf“) Recht: „Coco“ setzte sich von den USA bis Österreich auf Anhieb an die Spitze der Kino-Charts.
FilmClicks: Bei Filmen, die im Land der Toten spielen, denkt man eher an Horror als an Komödien. Ist „Coco“ die erste Skelett-Komödie?
Lee Unkrich: Nicht wirklich. Es gibt sehr frühe Disney-Kurzfilme mit Skeletten, und auch Tim Burton hat Filme mit Skeletten gemacht. Wir sind also nicht die ersten. Aber wir versuchen, das Thema auf unsere sehr eigene Weise anzugehen.
Auf alle Fälle ist es ein ausgefallenes Thema für einen großen Familienfilm, wenn man auf der Leinwand – sehr lebendigen – Toten begegnet.
Unkrich: Stimmt. Und das ist auch gut so, oder nicht? Bei Pixar lieben wir ungewöhnliche Geschichten. Wir wollen Storys erzählen, die noch niemand kennt, und wir wollen uns nicht wiederholen. Außerdem wollen wir die Zuschauer überraschen. Niemand sieht gern Filme, in denen alles vorhersehbar ist.
Wie lange haben Sie an der Story von „Coco“ gearbeitet, bevor der Dreh begann?
Unkrich: Gut dreieinhalb Jahre lang. Da bereiteten wir aber auch schon die Welt vor, in welcher der Film spielen sollte, und wir entwarfen die Figuren.
Warum dauert die Arbeit an Animationsfilmen so viel länger als bei Spielfilmen?
Unkrich: Das ist einfach so. Und ich glaube, der großzügige Umgang mit der Zeit ist einer der Gründe dafür, dass Pixar so zahlreiche Erfolge aufweist. Während viele andere Filme relativ rasch durch den Produktionsprozess geschleust werden, gibt uns das Studio die Zeit, um die Storys bis ins winzigste Detail auszufeilen. Wir produzieren nun schon so lange, dass wir genau wissen, dass die erste Version einer Story nie einen perfekten Film ergibt. Wir müssen die Story formen, wir müssen alles überprüfen, und natürlich machen wir unterwegs auch Fehler. Aber das ist ein Bestandteil des kreativen Prozesses, und man gibt uns genug Raum, um diese Fehler zu machen.
Darla K. Anderson: Man muss auch bei vielen anderen Filmen sagen, dass beim Schreiben des Drehbuchs Jahre vergehen können, während der Dreh dann viel weniger Zeit verschlingt. Bei unseren Trickfilmen kommt hinzu, dass wir die Welt, in der sie spielen, komplett neu erfinden müssen. Am Beispiel von „Coco“: Wir können nicht ins Land der Toten fahren und dort unsere Kameras aufbauen
(lacht). Und da kann es schon mal vorkommen, dass man unterwegs denkt, oh nein, jetzt haben wir nur noch zwei Jahre zur Verfügung, bis alle Sets vollendet und alle Figuren komplett fertig sind. Die reine Drehzeit, in der die Figuren durch die Animation zum Leben erwachen, liegt dann bei etwa anderthalb Jahren.
Hätten Sie einen Film wie „Coco“ technisch schon vor zehn Jahren realisieren können?
Unkrich: Nun, wir hätten das Projekt in Angriff nehmen können, aber wir hätten das nicht einmal versucht – das wäre einfach viel zu ambitioniert gewesen. Der Film hätte damals nicht so ausgesehen wie heute. Die Animationen wären nicht so subtil geworden und wir hätten nicht diesen riesigen Reichtum an Details realisieren können. Vor zehn Jahren waren die Computer bei weitem nicht so schnell wie heute, und unsere Werkzeuge waren nicht so ausgefeilt wie sie es mittlerweile sind. Außerdem hatten wir im Studio noch nicht so viele brillante Animationskünstler wie heute. Die Leute sind im Lauf der Jahre immer besser und besser und besser geworden.
Der Fortschritt der Animationstechnik ist besonders deutlich an der Titelfigur, der alten Dame Coco, sichtbar.
Unkrich: Genau; mit all ihren Fältchen, mit den Details ihrer Hände. Wir schauten uns für Coco viele Fotos von sehr alten Frauen an, die den 100. Geburtstag schon hinter sich haben. Viele von ihnen hatten so viele Falten, dass ihre Gesichter wie Landkarten aussehen. Der erste Drehbuchautor von „Coco“ beschrieb Oma Coco als „lebende Rosine“. Das schien mir sehr passend zu sein, und ungefähr so haben wir versucht, die Figur zu entwerfen.
Bei Pixar steht das Zitat von Walt Disney hoch im Kurs, dass es für jedes Lachen in einem Film auch eine Träne geben soll. Im Fall von „Coco“ scheint man den Satz besonders intensiv befolgt zu haben – es gibt viele sehr berührende Momente.
Unkrich: Es kann schon sein, dass wir diesmal für mehr Tränen als für Lacher sorgen. Das liegt an der Story, die wir erzählen. Wir wollen die Zuschauer nicht zu Tränen treiben, aber wir wollen, dass sie etwas spüren, wenn sie unsere Filme sehen. Ich würde nicht gern sechs Jahre an einem Projekt arbeiten, das man nachher achtlos in die Ecke legt und über das niemand mehr nachdenkt.
Anderson: Bei allen emotionalen Momente ist „Coco“ ein sehr charmanter Film mit einer sehr positiven Botschaft. Es gibt viele ausgesprochen komische Szenen. Und auch bei den Gefühlen haben wir hoffentlich den richtigen Ton getroffen.
„Coco“ ist ein Familienfilm, der sich sehr intensiv auch an Kinder wendet. Sind für die ganz Kleinen die rührenden Szenen und auch die Auftritte der Skelette nicht vielleicht ein bisschen zu viel?
Unkrich: Das glaube ich nicht – wir wollen niemanden erschrecken. Es gibt nur einen ganz kurzen Moment, in dem die Skelette einmal ein wenig furchterregend ausschauen. Wir wissen, dass Kinder immer eine wichtige Gruppe unserer Zuschauer sind, also sorgen wir dafür, dass wir nichts zeigen, was nicht kindergerecht wäre. Bei Kids unter sechs Jahren sollten die Eltern vielleicht überlegen, ob sie den Film schon mit ihnen anschauen sollen. Aber „Coco“ ist kein dunkler Film geworden; es geht nicht um den Tod und nicht um das Trauern. Unsere Hauptthemen sind die Familie und wie wichtig es ist, seinen Träumen zu folgen, auch wenn man dabei Widerstände überwinden muss. Und solche Themen sind gut für Kinder, denke ich.
Haben Kinder und Erwachsene die gleichen Reaktionen auf das, was sie auf der Leinwand sehen?
Unkrich: Ich habe über die Jahre die Erfahrung gemacht, dass Kinder unsere Filme ganz anders aufnehmen als Erwachsene. Große Emotionen werden zum Beispiel von Erwachsenen viel stärker wahrgenommen als von Kindern. Das liegt an den unterschiedlichen Positionen im Leben: Wir Erwachsenen denken schon mal über unsere Sterblichkeit nach und darüber, wie wir von den anderen in Erinnerung behalten werden. Bei kleinen Kindern sieht die Perspektive aufs Leben vollkommen anders aus.
Der Satz „Folge deinen Träumen“ hat in „Coco“ eine große Bedeutung. Gilt das auch für Künstler und Kreative, die sich in der Filmbranche durchsetzen wollen?
Anderson: Ja. Es ist nicht leicht, in der Filmbranche einen Job zu bekommen, und man braucht viel Zeit, um seine Talente zu entwickeln. Was zur Folge hat, dass man einerseits Geduld haben muss, andererseits aber auch den starken Willen, sein Ziel zu erreichen. Und dann kann es nicht schaden, wenn es auch noch den einen oder anderen glücklichen Zufall gibt, der einen weiterbringt.
„Coco“ spielt in Mexiko, einem Land, das heutzutage eher wegen seiner Kriminalität Schlagzeigeln macht als wegen seiner Kreativität und seiner Schönheit. Im Film bekommt man aber ein sehr farbiges, prächtiges Mexiko zu sehen.
Unkrich: Wir wollten zeigen, dass Mexiko ein wunderschönes Land mit großartigen Menschen ist. Manche Schlagzeilen, die aus Mexiko kommen, sind übertrieben. Sie werden der Realität des Landes und seiner Kultur nicht gerecht. Da wird das Land zu sehr auf ein paar Stereotype reduziert. Wir sind sehr stolz darauf, einen Film zu präsentieren, der die Vielfalt des Landes zeigt.
Eine letzte Frage noch: In „Coco“ wird sehr viel Gitarre gespielt. Wäre der Film als Lehr-Video geeignet – sieht man die echten Gitarrengriffe zu den Akkorden?
Anderson: Ja. Das war uns besonders wichtig. Lee Unkrich sagte, es gibt so viele Filme, in denen das Musizieren erkennbar nur vorgetäuscht wird. Er wollte hingegen, dass man exakt die Griffe zu den Akkorden sieht, die man hört. Wir verwendeten GoPro-Kameras bei Gitarristen, damit die Animateure sehen konnten, wie sie arbeiten sollten. Man könnte den Film also nutzen, um die Musik zu lernen.