Paul Laverty über den Cannes-Siegerfilm „Ich, Daniel Blake“


„Der Unmut der Bürger muss größer werden!“

24.05.2016
Interview:  Peter Beddies

Ein eingespieltes Gespann: Drehbuchautor Paul Laverty (li.) mit Cannes-Gewinner Ken Loach © Polyfilm

Cannes-Gewinner Ken Loach dreht seit einem halben Jahrhundert Filme über soziale Brennpunkte. Seit 20 Jahren schreibt Paul Laverty die Drehbücher dazu. So war es auch beim Arbeitslosen-Drama „Ich, Daniel Blake“, das jetzt mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. FilmClicks traf Paul Laverty bei der Weltpremiere des Films in Cannes: Ein Gespräch über den Film, über Ängste, soziale Kälte, Not und deren Ursachen.


FilmClicks: Was ist eigentlich aus der guten alten Marktwirtschaft geworden, die jeder von uns irgendwie mochte?
Paul Laverty: (verzieht sein Gesicht schmerzhaft)
       
Na gut, sagen wir mal, wir haben uns alle irgendwie an die Wirtschafts-Misere gewöhnt. Warum wird alles immer schlimmer?
Eigentlich müsste man sich jedes Land anschauen. Nicht in jedem ist es so schrecklich wie in England. Und nicht jedes Land steuert auf einen Donald-Trump-Albtraum zu. Was aber alle Länder des Westens vereint: Es gab viele Jahrzehnte lang in der Arbeiterklasse und in der Mittelschicht eine Sicherheit. Die Sicherheit, dass niemand oder sehr wenige nur durch das soziale Netz fallen würden. Das hat alle irgendwie zufrieden gemacht.
 
Und heute?
Da regiert die Angst. Wir sind von Angst umgeben. Sie ist überall. Sie wird weitergegeben unter den Kollegen, unter Nachbarn und Freunden. Und wer profitiert davon? Die Rechte, die überall in Europa stärker und stärker wird. Das große Problem, das ich sehe, der Riss geht durch die Gesellschaft hindurch von oben bis unten. Das ist wirklich gefährlich.

„I, Daniel Blake“: Ein packendes Drama über soziale Kälte in England © Festival Cannes

„Ich, Daniel Blake“ beginnt mit einer Behauptung, die man schwer glauben kann. Eine junge Frau erklärt, dass sie von London wegziehen musste, um weiterhin soziale Leistungen zu beziehen.
Klingt danach, als wäre dem Drehbuchautor die Fantasie durchgegangen, oder? Entspricht aber der Wahrheit. In London fehlt es an Wohnungen. Da immer mehr Menschen anfragen, die sich das teure Wohnen dort leisten können, war die Schlussfolgerung der Regierung: Die Armut muss aus London verschwinden. Also werden mehr und mehr Menschen gezwungen, die Stadt zu verlassen, damit man Raum für Luxus-Wohnungen schaffen kann. Davon habe ich Ken Loach erzählt und so langsam wurde daraus die Idee, einen Film zu machen.
 
An dieser Stelle begann dann Ihre Arbeit. Sie reisten durch Großbritannien.
Ja und was ich da gesehen habe, war erschütternd. Das dürfen Sie mir glauben. Menschen, die mitten im Winter die Wahl haben, sich entweder was zum Essen zu kaufen oder die Heizung aufzudrehen. Ein Skandal! Viele der Schicksale waren so drastisch, dass wir sie im Film nicht zeigen konnten. Das hätte uns niemand geglaubt.
 
In einer Szene fällt Ihre Hauptheldin unangenehm in einem Laden auf, in dem sie vergünstigt einkaufen kann.
Das wurde mir wirklich so erzählt. Eine junge Frau blieb vor einem Regal mit Konserven stehen und tat so, als hätte sie etwas Interessantes entdeckt. Und als sie dachte, niemand würde hinschauen, hat sie die Dose aufgemacht und den Inhalt verschlungen. Sie hatte seit Tagen nichts mehr zu essen gehabt. Das wenige, was es gab, hatten die Kinder bekommen. Die wiederum sahen ihre Mutter jetzt in der Situation und schämten sich; und die Mutter schämte sich auch. Solche Geschichten machen mich unglaublich wütend.
 
Früher neigte man dazu, die Nase zu rümpfen, wenn man von Menschen hörte, die so sehr auf den Staat angewiesen sind.
Das ist schon lange nicht mehr angebracht. Schauen Sie sich unsere beiden Hauptcharaktere in „Ich, Daniel Blake“ an. Er hat mehr als 40 Jahre gearbeitet, sie strebt einen Uni-Abschluss an. Und trotzdem geraten sie in die Spirale nach unten. Heute trifft man immer mehr Menschen, die sich von ihrer Arbeit das Leben nicht leisten können. Ganz normale Menschen – wo leben wir denn eigentlich?! Und wenn man neue Studien betrachtet, dann werden diese Menschen viel häufiger krank als jene mit Arbeit. Der Staat züchtet sich neue Kranke heran. Unfassbar!
 
Wenn man „Ich, Daniel Blake“ anschaut, muss man zwangläufig an Franz Kafka denken.
Finde ich auch. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird immer absurder. Viele Menschen werden Montags für drei Stunden gerufen. Dienstags für fünf. Mittwoch dann nicht. Alles, um immer noch mehr Geld zu sparen. Und das führt dann zu solchen Schicksalen wie dem von Daniel Blake, der Sozialleistungen beziehen muss, eigentlich jedoch arbeiten möchte. Die Ämter bremsen ihn aus und tun so, als wäre er nicht willens, eine Stelle zu finden. Man will ihm die Schuld zuschieben. Er soll sich mies fühlen.
 
Wenn man sich dem Kinobesuch die Frage stellt, was sich ändern muss – und es muss sich etwas ändern – dann landet mal schnell bei Alternativen. Eine heißt Sozialismus. Gerade unter jungen Menschen schwer angesagt. Ich habe 23 Jahre in einem sozialistischen Staat gelebt und weiß: das ist auch nicht die Zukunft.
Stimmt, da gebe ich Ihnen Recht, Aber es muss etwas verändert werden. Davon erzählt unser Film. Diese ganzen Privatisierungen dürfen nicht weitergehen. In Englands Sozialhilfesystem wurde auch einiges privatisiert. Was machen diese Unternehmen? Sie versuchen, den Profit zu maximieren. Auf dem Rücken der Ärmsten der Armen. Wenn Sie mich fragen, hilft nur eines. Wie man es jetzt manchmal schon in großen Städten sieht. Die Bürger müssen aufwachen und auf die Straße gehen. Sie müssen den Regierungen zeigen, dass sie das nicht mit sich machen lassen. Das ist unsere versteckte Botschaft im Film. Der Unmut der Bürger muss größer werden!
 



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