Bernd Böhlich
über die DDR und seinen Film „Und der Zukunft zugewandt“
„Das kollektive Schweigen“
31.10.2019
Interview:
Peter Beddies
Im Fernsehen hat der deutsche Filmemacher Bernd Böhlich einen prima Ruf als Regisseur spannender Hauptabend-Unterhaltung vom „Tatort“ bis zum „Polizeiruf 110“. Doch im Kino präsentiert Böhlich, der in der DDR aufwuchs und beim Mauerfall 32 Jahre alt war, nun eine ganz andere, politische Seite seiner Arbeit. Das Drama „Und der Zukunft zugewandt“, für das er auch das Drehbuch schrieb, schildert ein düsteres Kapitel aus der Geschichte der DDR und der Sowjetunion. Es geht um eine junge Kommunistin aus Deutschland, die in den 1930er Jahren in Russland vom Stalin-Regime jahrelang in ein Arbeitslager verbannt wurde und die später in der DDR über das erlittene Unrecht schweigen musste. FilmClicks-Redakteur Peter Beddies, in Leipzig daheim, traf Bernd Böhlich zum ausführlichen Gespräch.
FilmClicks: Wer die DDR selbst erlebt hat, der kennt die verschiedenen Stadien, wie man sich zu dem Land stellt. Das kann von Ablehnung bis zum Heimatgefühl reichen. Aber wenn man sich Ihren Film „Und der Zukunft zugewandt“ anschaut, dann fragt man sich auf jeden Fall: In welchem Land haben wir da gelebt?
Bernd Böhlich: Kenne ich. Geht mir genauso. Und wissen Sie, wann ich mir diese Frage zum ersten Mal gestellt habe? Als ich die Idee zu diesem Film hatte. Das ist mehr als 30 Jahre her.
Was ist damals passiert?
Ich habe meinen ersten „Polizeiruf“ in Rostock gedreht. Das war 1988. Wir standen in unserem Hotel am Tresen und mussten, warum auch immer das damals in der DDR so war, unsere Ausweise vorzeigen. Auf jeden Fall zog sich das ein bisschen in die Länge. Und da habe ich – was man ja eigentlich nicht macht – in den Ausweis der Schauspielerin Swetlana Schönfeld geschaut. Bei Geburtsort stand dort ein Wort, das ich noch nie gehört hatte. Sie sagte: „Ich bin in Kolyma geboren. Das ist ein Ort in Sibirien. Das war ein Straflager“. Und ich darauf zu ihr: „Wir wollen morgen hier unseren kleinen Film zu drehen beginnen und du erzählst mir, dass du in einem Straflager geboren wurdest?“ Sie meinte nur: „Wenn du möchtest, kann ich dir mehr darüber sagen“.
War Ihnen das bis dahin noch nie zu Ohren gekommen?
Nein, damals wusste man nichts davon in der DDR. Wer etwas anderes sagt, lügt. Es gab Leute, die haben sich Solschenizyns „Archipel Gulag“ heimlich mitbringen lassen. Aber offiziell wurde über Menschen, die jahrelang unschuldig in der Sowjetunion in Haft gesessen haben, nicht geredet.
Jetzt sind ein paar Jahre ins Land gegangen. Wollten Sie nicht gleich einen Film darüber machen?
Doch, das hätte ich gern getan. Aber ich wusste nicht wie! Ich habe immer wieder mit Swetlana über ihre Mutter gesprochen. Irgendwann meinte sie einmal, dass ich mit zu ihrer Mutter kommen könnte, wenn sie sich einmal in der Woche mit Frauen trifft, die wie sie in der Sowjetunion im Lager waren. Aber sie hat mir auch gesagt: „Du darfst dich nicht wundern. Wenn die Frauen beginnen, in der Küche zu reden, macht eine von ihnen erst einmal das Radio an!“ Da habe ich zu ihr gesagt: „Swetlana, es ist 1988. Da muss doch in der DDR niemand mehr das Radio anmachen, wenn er was besprechen will!“ Aber Swetlana hat mir klar gemacht, dass den Damen völlig schnurz war, ob der Mann an der Spitze des Staates nun Erich Honecker oder sonst wie hieß. Sie hatten jegliches Vertrauen verloren.
Wie sind Sie dann letztendlich zu Ihrer Geschichte gekommen? Der Recherche-Berg wurde sicher immer größer.
Sicher. Und Swetlana hat auch hin und wieder mal nachgefragt, was denn unser Projekt macht. Dann meinte sie eines Tages: „Habe ich dir schon mal erzählt, dass meine Mutter und all die Anderen – als sie in die DDR kamen – unterschreiben mussten, dass sie nichts über ihre Zeit in der Sowjetunion und besonders über ihre Zeit im Lager sagen dürfen?“ Da hatte ich das Gefühl, dass genau das meine Geschichte sein könnte.
Das kollektive Schweigen.
Genau. Das kollektive Schweigen. Das jeder kennt, der in der DDR gelebt hat. Was man den Frauen damals angetan hat. Sie haben die Hölle überstanden, kommen dann wieder in die alte Heimat, die jetzt eine neue ist und man sagt ihnen: „Darüber reden wir später. Aber nicht jetzt!“
Das war ein typischer Satz für die DDR. An den kann ich mich auch noch gut erinnern. Man hat immer darauf gepocht, dass man ja gern über alles reden könne. Nur nicht jetzt!
Ja. Und das ist diesen Menschen widerfahren, die gerade Schreckliches durchgemacht haben. Wissen Sie, Swetlana hat mich vor ein paar Jahren mal angerufen. Sie hatte in einem Archiv in Russland die Akte ihrer Mutter angefordert. Der Karton war da und sie wollte nicht gern allein hineinschauen. Also bin ich zu ihr und wir haben gemeinsam geschaut. Ganz oben auf lag ein Zettel mit dem Foto ihrer Mutter. Eine hübsche junge Frau, die geradewegs in die Welt schaut. Die der Liebe wegen nach Moskau gekommen war. Leider im verheerenden Jahr 1937, als so viele Menschen unschuldig verurteilt wurden. Dann dreht man das Blatt um und da steht: 20 Jahre Lagerhaft! Da hat man dann eine ganze Biografie in der Hand. Ein Leben, das kaputtgemacht worden ist. Diese Geschichte wollte ich erzählen und mir nicht von einem Filmemacher aus München erzählen lassen.
Ich glaube ja, dass es jeder Zuschauer verstehen würde, wenn die Antonia in Ihrem Film - grandios leise und zurückgenommen gespielt von Alexandra Maria Lara - nach der Rückkehr aus der Sowjetunion in die Opposition gegangen wäre. Wenn sie damals, Anfang der 1950er Jahre, das Land verlassen hätte. Aber stattdessen glaubt sie den Politikern.
Aber so war es doch damals. Natürlich gab es auch damals scharfe Hunde, die einem sofort unsympathisch waren. Habe ich auch beim Fernsehen der DDR erlebt. Aber es gab eben auch viele Menschen in diesem System, denen man zum einen geglaubt hat, dass sie für die Sache brennen. Aber dann – und das gehört zu den Lebenslügen, auch den eigenen, dazu – hat man diesen Menschen zu lange vertraut. Hat zu lange geglaubt, dass sie schon eines Tages abdanken würden. Auch hier haben wir viel zu lange geschwiegen.
Wenn Sie von eigenen Lebenslügen sprechen…
…ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich war Student an der Filmhochschule Potsdam. Hinter dem Wohnheim war der Griebnitzsee - am anderen Ufer West-Berlin. In den Nächten, das beschäftigt mich bis heute, waren Schüsse zu hören, aus Maschinengewehren. Das war nicht der Westberliner Jäger, der einen Hasen schießen wollte. Da wurde auf Menschen geschossen. Und am nächsten Morgen? Niemand hat darüber gesprochen. Auch ich nicht! Niemand hat gefragt: „Habt Ihr das letzte Nacht gehört?“. Niemand. Nur Schweigen. Und wir waren nicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Wir waren Anfang, Mitte Zwanzig. Das hat mich vor mir selber erschreckt.
Jetzt ist Ihr Film nach einer sehr langen Reise fertig. Pünktlich zum dreißigsten Jubiläum des Mauerfalls kommt er in die Kinos. „Und der Zukunft zugewandt“ wäre auch ein guter Film für die Berlinale gewesen.
Ja, das habe ich im Laufe dieses Jahres schon häufiger gehört: „Warum ist der nicht auf der Berlinale gelaufen? Warum hat er die Berlinale nicht eröffnet? Dieser Film mit diesem Thema in diesem Jahr – mehr geht doch jetzt nicht!“ Aber die Berlinale wollte ihn nicht. Dieter Kosslick (der Festival-Chef, Anm.) meinte, dass er lieber „Der goldene Handschuh“, den Film von Fatih Akin, im Wettbewerb haben wollte.
Verbittert Sie das?
Ja. Obwohl verärgern wäre wohl das treffendere Wort. Ich schaue und bewundere gern Filme von Kollegen. Alles andere wäre auch kleinlich. Aber in dem Fall hat es mich sauer gemacht. Weil es für mich auch nicht nachvollziehbar ist. Auf jeden Fall wollte das Festival im indischen Goa den Film haben. Dort haben wir ihn gezeigt. Ich wusste nicht, was mich erwartet – völlig anderer Kulturkreis. Ich dachte, dass ich vielleicht mit drei Menschen in einem Kino sitze. Von wegen: Fünf Säle waren komplett ausverkauft. Da hatte ich so das Gefühl, dass uns wohl doch etwas mehr als nur ein kleiner Film über die DDR gelungen ist. Etwas mehr als nur so eine kleine Geschichte, die begrenzt verstanden wird. Außerdem gibt es einem das schöne Gefühl, dass sich dieser lange Weg gelohnt hat.
Das Projekt hat 1988 mit Swetlana Schönfeld, die im Film die Mutter der Hauptfigur Antonia spielt, begonnen. Was hält sie vom Film?
Für sie ist es eine Riesenerleichterung, dass der Film nun fertig ist. Dass man sich das anschauen und vielleicht auch damit irgendwie abschließen kann. Diese Zeit und was damals geschehen ist, zerreißt ihre Familie heute noch manchmal. Swetlana geht mit dem Gulag, in dem sie aufgewachsen ist, sehr offen um. Ihre Schwester hingegen spricht nicht darüber. Die russische Sprache kann und will sie nicht hören. Nicht über ihre eigene Vergangenheit reden. Das ist wie ein Tabu für sie. Es soll alles vorbei sein und niemand soll darüber reden. Ich dachte auch, dass sie mal zu einer der Vorführungen kommen würde. Hat sie nicht getan. Swetlana hat mir gesagt, dass ihre Schwester so eine Wut auf dieses System hat, dass sie darüber nicht reden mag.
Wenn wir uns jetzt an den Mauerfall vor 30 Jahren erinnern: Ist das ein Feiertag für Sie?
Ja, in jedem Fall! Weil eine Mauer ein Anachronismus ist. Egal, wie man versucht, die Mauer zu begründen. Es ist das allerletzte Mittel, um eine Gesellschaft zu schützen. Eine Mauer gehört nicht ins 20. Jahrhundert!
Und das Reden über die DDR?
Muss sein. Aber man sollte mal einen neuen Ansatz wählen. Ich sage bei solchen Anlässen immer ganz gern: „Die DDR hatte ungefähr so viele Einwohner wie Nordrhein-Westfalen. Jetzt lassen Sie uns mal überlegen, was der Rest der Republik sagen würde, wenn wir 30 Jahre später immer noch davon reden, wie die Menschen in NRW mit den Verwerfungen von 1989 klar kommen - mit den Brüchen in ihren Biografien!“ Da würden bestimmt viele Leute sagen: „Könnt ihr mal aufhören mit Nordrhein-Westfalen? Wir haben echt ein paar andere Probleme!“ Ich finde, wir sollten uns mal ein bisschen zurücknehmen.
Also nicht mehr so viele Filme und Serien über die DDR?
Doch. Nachdenken darüber natürlich, warum das gescheitert ist. Aber mehr in der Gegenwart leben und uns auch nicht mehr so klein machen. Ich befürchte, dass wir uns damit arrangieren, dass wir im Osten so bedauert werden. Wir möchten das ja auch so gern. In der Tonlage: „Wir hatten schon ein schweres Leben. Das könnt ihr uns schon glauben!“ Und die Menschen aus dem Westen, die sind einfach verunsichert. Die sagen: „Wir wissen nicht mehr, wie wir mit euch umgehen sollen.“ Ich finde, dass das Ziel 1990 falsch ausgerufen wurde. Dass es materiell allen gleich gehen soll, das ist doch völlig klar. Aber dass wir alle gleich sein sollen, das ist ein Missverständnis. Gerade die Unterschiede machen doch den Reiz aus.