Reinhold Bilgeri über „Erik & Erika“, Mut, Angst und seine Liebe zum Film


„Die Filme waren meine Akademie“

02.03.2018
Interview:  Gunther Baumann

Reinhold Bilgeri: „Ich liebe die Wahnsinnigen im Sport, die über die Grenzen gehen“ © Kathrarina Sartena

Der Titel seines ersten Pop-Superhits, „Video Life“, hatte etwas Visionäres. Der Vorarlberger Reinhold Bilgeri ist nach seinen Karrieren als Popstar und Roman-Autor („Der Atem des Himmels“) heute als Filmregisseur aktiv. In seinem neuen Film „Erik & Erika“ schildert er das Leben der österreichischen Ski-Weltmeisterin Erika Schinegger, in der ein Erik verborgen war: Die Ärzte diagnostizierten nach einem Sextest, die Sportlerin sei biologisch ein Mann. Im FilmClicks-Gespräch erzählt Bilgeri über seine Bewunderung für Erik Schinegger („in Wahrheit ist er ein Triumphator“),  über sein eigenes Draufgängertum („manchmal wünsche ich mir etwas mehr  Ängstlichkeit“) und über seinen Masterplan fürs Leben, den er schon als Teenager entwarf: „Erst Rockstar. Dann Schriftsteller. Und in meinem letzten Lebensdrittel wollte ich Filme machen.“


„Erik & Erika“: Erika Schinegger (Markus Freistätter) wird 1966 als Ski-Weltmeisterin gefeiert © Lotus

FilmClicks: Herr Bilgeri, was hat Sie daran gereizt, einen Film über Erik Schinegger zu drehen?

Reinhold Bilgeri: Zunächst wurde das Thema in den USA an mich herangetragen. Ich wurde einem amerikanischen Autoren-Ehepaar vorgestellt; die beiden hatten ein Drehbuch über den Fall Schinegger geschrieben. Sie dachten an eine große US-Produktion mit James Franco in der Schinegger-Rolle. Ich fand, dass das Buch ein wenig zu amerikanesk war und dass ihm die österreichische Seele fehlte; das wollte ich den Autoren aber nicht ins Gesicht sagen. Dieses Projekt ist eingeschlafen. Doch in Europa, bei der Lotus-Film in Wien und der Zeitsprung-Film in Köln, hörte ich wieder von der Idee einer Schinegger-Produktion. Und ich sagte, dass mich das Projekt wahnsinnig interessiert. Denn erstens ist meine Affinität zum Extremismus im Sport sehr stark ausgebildet. Ich liebe diese Wahnsinnigen total, weil sie über die Grenzen gehen und weil sie so angstfrei sind oder ihre Angst überwinden. Solche Leute geben mir eine große Inspiration. Und zweitens war ich in meiner Teenager-Zeit ein Riesenfan von Erika Schinegger. Ich war damals ein patriotischer Fanatiker, was den Skisport betrifft. Ich habe Erikas Rennen mitverfolgt und ihr immer die Daumen gedrückt.
 
Gab es damals, auf dem Höhepunkt von Erika Schineggers Karriere, schon Zweifel daran, ob sie wirklich eine Frau ist?
Nein. Vom ÖSV und von den Ärzten hat zunächst niemand etwas gecheckt. Ich komme ja selbst aus dem stockkonservativen katholischen Mief, in dem die Tabuisierung gedeihen konnte. Zwischen Bauchnabel und Schenkel gab es nichts. Wenn überhaupt jemand Zweifel hatte, dann war es die ganz junge Erika selbst. Aber sie konnte das nicht verbalisieren. Erik hat mir einmal erzählt, dass er schon als Kind merkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Die Buben wollten ihn nicht, weil er ein schiaches Mädl war, und die Mädels wollten ihn nicht, weil er einen viel zu burschikosen Schmäh hatte und zu kräftig und einfach anders war. Er war ja in Wahrheit immer ein Bub. Ein Fall von Pseudohermaphroditismus, alle Primärgenitalien nach innen gewachsen.

„Erik ist ein smarter Kerl“: Reinhold Bilgeri mit Erik Schinegger © Pablo Leiva

Haben Sie Erik Schinegger im Laufe der Produktion näher kennengelernt?
Ja, ziemlich gut. In seiner Kindheit hat ihn die Sprachlosigkeit, die ihn umgab, noch einsamer gemacht, denn er war eigentlich ein smarter Kerl. Wenn man ihm heute zuhört – da ist viel Weisheit dabei, Lebensweisheit. Er hat seine Krisen überlebt. In Wahrheit ist er der Triumphator, der ein gelungenes Leben führen konnte, auch wenn viel Tragik dabei war. Bis heute hat er einen Drang ins Rampenlicht, den ich verständlich und nachvollziehbar finde: Das ist seine Form der Selbstbehauptung. Zugleich scheint mir da ein Schatten eines Traumas sichtbar zu sein.
 
„Erik & Erika“ spielt zwar in den 1960er Jahren, aber auf eine überraschende Weise wirkt der Film auch sehr aktuell. Schlagwort Me Too: Das Macho-Verhalten der Funktionäre und Trainer passt zu den Vorwürfen wegen sexueller Belästigung, die jüngst im österreichischen Skisport artikuliert wurden.
Wir hatten natürlich nicht gewusst, dass uns die Me-Too-Debatte und die ÖSV-Skandale einholen würden. Es ist gut, dass diese Vorwürfe heute aufgearbeitet werden – und für den Film ist die Debatte eine gute Werbung. Ich bin, was die Vorwürfe betrifft, ganz auf der Seite der Damen. Schon bevor die Ex-Rennläuferin Nicola Werdenigg an die Öffentlichkeit trat, habe  ich von Erik gehört, wie es damals im Skiteam zugegangen ist. Da gibt es Geschichten, die ich lieber nicht aussprechen möchte. Übergriffe waren gang und gäbe. Inzwischen ist das besser geworden, denke ich. Unter anderem deswegen, weil die Presse so hellhörig ist.
 
Formal ist „Erik & Erika“ ein außergewöhnlicher Film, weil er in der Story und in der Spielweise auf ausgesprochen große Emotionen und Bilder setzt.
Das ästhetische Konzept war genau geplant. Für die Bildästhetik engagierte ich den Kameramann Carsten Thiele, dessen Arbeit mich schon bei Dieter Berners „Egon Schiele: Tod und Mädchen“ begeistert hatte. Beim Kärntner Bauernhof der Schineggers schwebte mir ein gelblich-bräunliches Fünfziger-Jahre-Heimeligkeit-Idyll vor. Nicht kitschig – das war dort so. Der Kontrapunkt dazu ist dann diese aseptische, kühle und weiße Atmosphäre in der Klinik, in der Erika behandelt wird. Die Schatten der Fensterrahmen dort suggerieren eine gewisse Gefängnis-Atmosphäre. Diese Metaphorik ist total beabsichtigt. Das Ensemble der Herren vom ÖSV habe ich so inszeniert, wie ich das Auftreten von Männern in meiner Jugendzeit selbst erlebt hatte. Da gibt es die eine Szene, in der Erika vor einem Tribunal von Funktionären sitzt; ganz klein vor fünf Männern. Ich habe die Herren sogar noch auf ein Podium gesetzt, dass sie auf Erika hinunterschauen, und dahinter stehen Heiligen-Statuen. Klar ist das ein bisschen überzeichnet, aber bewusst überzeichnet, denn diese Metaphorik wollte ich haben.
 
Beim Dreh: Bilgeri mit Schinegger-Darsteller Markus Freistätter © Tina Wirth

Markus Freistätter, der die Titelrolle von „Erik & Erika“ spielt, agiert sehr eindrucksvoll.

Ich finde Markus Freistätter genial. Er hat die schrittweise Metamorphose von der Frau zum Mann bei jedem Take akribisch genau mit mir besprochen. Da stellte er sich Fragen wie, bin ich noch diese Frau und will ich sie auch sein – oder bin ich nur noch diese konditionierte, anerzogene Frau – oder bin ich sogar schon ein Mann? Er hat das unglaublich gut umgesetzt. Das ist sehr schwer, und das hätte sehr leicht auch peinlich werden können. Der Film hätte unglaublich danebengehen können, wenn die Titelfigur nicht stimmt. Wenn der Bursche den Film nicht trägt, dann ist alles nur lächerlich. Ich bin diesem talentierten Burschen sehr dankbar, dass er das so adäquat hingekriegt hat. Erik Schinegger hat gelacht und geweint, als er den Film zum ersten Mal sah – er hat sich in Markus Freistätter wiedererkannt. Das war für mich das allerwichtigste.
 
Viele Filmbiografien konzentrieren sich auf einen eher kurzen, aber markanten Lebensabschnitt ihres Protagonisten. „Erik & Erika“ hingegen umfasst rund 20 Jahre, beginnend bei Erikas Geburt.
Man kann über dieses Konzept diskutieren, aber ich fand gerade die Szene mit Erikas Geburt sehr wichtig. Da wird schon so vieles gesagt. Die Hebamme schaut hinein und sieht kein Zipferl, und dann schaut auch der Vater und sagt, ja, ein Mädl, und knallt die Tür zu. Punkt. Denn ein Bauer bräuchte ja einen Buben zum Arbeiten. Man könnte die Geschichte auch mit Rückblenden erzählen, doch wir wollten Erikas Entwicklung chronologisch zeigen. Wir hatten ja insgesamt drei Erikas für die unterschiedlichen Altersstufen. Die Kinder, lauter Amateure, haben das entzückend hingekriegt.
 
Wechseln wir das Thema: Sie sagten vorhin, dass Extremsportler Sie begeistern können. Sind Sie – auf Skiern oder ganz generell beim Sport – selbst ein Extremist?
Nun, früher war das so – jetzt muss ich aufpassen, dass die Knochen okay bleiben, denn ich möchte noch ein paar Filme drehen. In meiner Jugend bin ich schon ein bissl ein Depp gewesen. Aber nicht so begabt, dass ich mit den Spitzenleuten hätte mithalten können. Doch extreme Leistungen haben mich schon immer interessiert. Deshalb möchte ich auch, das ist mein Lebensprojekt, das Leben des Seefahrers und Entdeckers Magellan verfilmen. Es gibt keinen extremeren Menschen als Fernando Magellan, den ersten Weltumsegler. Das würde auch ein Reinhold Messner sofort bestätigen.
 
Sind Sie auch so ein angstfreier Mensch wie viele Extremsportler?
Ja, ein bissl. Aber das ist gefährlich. Manchmal  wünsche ich mir etwas mehr Ängstlichkeit, weil ich mich schon in furchtbare Situationen gebracht habe. Als Elfjähriger bin ich einmal in Feldkirch auf einem Hügel, dem Stadtschrofen, über einen extrem schmalen Grat gegangen. Das war eine Wette mit einem andern Buben – wer traut sich. Ich Trottel, natürlich. Der Fels ging 200 Meter hinunter, und ich habe für zwei Meter eine halbe Stunde gebraucht. Denn ich wusste: Ein Fehler – und es ist vorbei. Da war ich zwischen Leben und Tod. Andererseits, und das ist das Schizophrene, war dieses Erlebnis aber unglaublich geil.
 
Hat Ihnen die Angstfreiheit dann auch bei Ihrer Pop-Karriere genutzt?
Also, mutig bin ich, das habe ich immer schon gehabt. Ich bin immer, ohne einen Vertrag zu haben, in die einzelnen Genres gesprungen. Mit 14 oder 15 schrieb ich im Internat meinen Masterplan. Ich wollte ein Popstar oder ein Rockstar werden. Dabei habe ich mich eigentlich viel mehr für Jazz interessiert, aber da kann man kein Geld verdienen. Ich wollte nicht die Musikwelt verändern - das habe ich, und das ist die Wahrheit, vor allem wegen der Mädels gemacht.  Ich wollte einen geilen Song, und dann kommen die Mädels. Denn ich dachte damals, ich krieg‘ sonst keine, mit roten Haaren und Sommersprossen. Da habe ich meine Komplexe abgearbeitet. Im Pop musste ich kommerzielle Sachen machen, um überleben zu können, nachdem ich vorher fünf Jahre an einem Gymnasium unterrichtet hatte.
 
Bis heute ein Pop-Evergreen: Cover von Bilgeris „Video Life“ © Hansa

Ein Popstar sind Sie geworden – war’s das bereits mit dem Masterplan?

Nein. Ich hatte drei Berufe im Sinn. Erst Rockstar. Dann Schriftsteller. Ich wollte Romane schreiben, inspiriert durch meinen Freund, den Autor Michael Köhlmeier. Und in meinem letzten Lebensdrittel wollte ich Filme machen.
 
Das haben Sie sich alles schon als Teenager ausgedacht?
Ja. Ich wurde 1964 aus dem Internat rausgeschmissen, weil ich abends über die Feuerleiter abhaute, um „Lawrence von Arabien“ zu sehen von Regisseur David Lean. Das war für mich die Initialzündung schlechthin. Dann schaute ich die Filme an von Sergio Leone, von Joseph L. Mankiewicz, von all den großen alten Meistern. 
 
Nun ist ja Regie an sich ein Lehrberuf, für den man eine jahrelange Ausbildung macht…
Meine Akademie waren die Filme. Ich habe die Filme seziert, vor und zurück, wie ist das Licht, wo ist die Kamera… Natürlich kann man das Handwerk auch an einer Filmschule lernen. Aber das nützt nichts, wenn man nicht das Grundtalent mitbringt – und ich glaube, das habe ich. Ich bin eine Flasche in Mathematik, ich kann keinen Nagel einhauen, ich kann nicht kochen. Doch ich kann Rocksongs singen oder Jazz-Standards. Ich kann Romane schreiben. Und ich kann Filme machen. Wenn ich auf den Set gehe, habe ich die Szenen schon fertig geschnitten im Kopf. Die Filme, die ich bis jetzt gedreht habe, brachten viele Leute ins Kino. Ich glaube, ich habe eine relativ gute Nase für das, was die Leute wollen: Im Pop hatte ich an die 20 Hits, und von meinem Roman „Der Atem des Himmels“ wurden 70.000 Exemplare verkauft. Das ist nicht so schlecht.



Kritik
Erik & Erika
Regisseur Reinhold Bilgeri erzählt in „Erik & Erika“ die wahre Geschichte der österreichischen Ski-Weltmeisterin Erika Schinegger, deren Sportkarriere endete, als ein Sextest zur Erkenntnis führte, dass sie männlichen Geschlechts ist. Mehr...