GESAMTEINDRUCK: „Erik & Erika“ ist ein hochemotionales Drama über Leben und Leiden der Ski-Weltmeisterin Erika Schinegger, die erst als Erik den richtigen Platz im Leben fand.
DIE STORY: 1966 gewann die 17 jährige Kärntnerin Erika Schinegger (gespielt von Newcomer Markus Freistätter) bei der Ski-WM in Chile den Abfahrts-Titel. Bei einem Sex-Test des burschikosen Mädchens stellte sich zwei Jahre später heraus, dass sie männlichen Geschlechts ist. Regisseur Reinhold Bilgeri schildert in „Erik & Erika“ Schineggers Lebensstationen von der Geburt bis zu jener Zeit, als dieser „seltene Fall von Intersexualität“ durch Operationen korrigiert und Erika zu Erik wurde.
DIE STARS: Lehramtsstudium, Popstar, Filmemacher: Der Vorarlberger Reinhold Bilgeri, Regisseur von „Erik & Erika“ beschritt einen Karriere-Pfad, der aus dem gewohnten Rahmen fällt.
Für die Titelrolle engagierte Bilgeri mit Markus Freistätter ein großes Talent der Wiener Theater- und Filmszene. Freistätters nächsten Projekte sind der Horrorfilm „Die letzte Party deines Lebens“ (Kinostart 22. März) und das André-Heller-Biopic „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“.
Rund um Freistätter sind in „Erik & Erika“ renommierte Schauspieler wie Ex-„Jedermann“ Cornelius Obonya, Marianne Sägebrecht („Out Of Rosenheim“), Ulrike Beimpold, Hary Prinz, August Schmölzer oder Lili Epply zu sehen.
DIE KRITIK: „Unten herum nichts Männliches, oben herum nichts Weibliches“: Diese Beschreibung, die im Film einmal zu hören ist, charakterisiert das Drama der Erika Schinegger. Als ein Arzt ihre wahre geschlechtliche Identität feststellte, war sie schon erwachsen: „Es ist kein einziges weibliches Geschlechtsorgan vorhanden, aber alle männlichen, komplett nach innen gewachsen.“
Heute würde die Gesellschaft mit so einem Fall von Intersexualität wohl halbwegs gelassen umgehen. Vor 50 Jahren, als erste Gerüchte aufkeimten, die Ski-Weltmeisterin Erika Schinegger sei ein Mann, war das anders. Der Skiverband, die Trainer und der Skifabrikant, so erzählt es der Film, inszenierten erst einmal ein gewaltiges Vertuschungsmanöver, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Das Befinden der Sportlerin Erika, in der sich seit ihrer Geburt ein Erik verbarg, interessierte die Funktionäre nur am Rande.
Im Film wird man Zeuge, wie Erika quasi weggesperrt und in ein geistliches Krankenhaus verräumt wurde, nachdem sie ihren Sextest absolviert hatte. Die Herren Funktionsträger ließen eine gefälschte Liste anfertigen, in der 30 stramme Burschen behaupteten, mit Erika geschlafen zu haben. Und sie hielten sehr lange an dem Plan fest, aus Schinegger durch Operationen – zum Beispiel Brustimplantate – ein „anständiges Frauenzimmer“ zu machen. Wobei sie gleichzeitig keinen Zweifel daran ließen, die Weltmeisterin im Sport für alle Zeiten aus dem Verkehr zu ziehen.
Es war dann die einfühlsame Nonne und Krankenschwester Sigberta (Marianne Sägebrecht), die zur Verbündeten Schineggers wurde. Hinzu kam der Mediziner Dr. Kübler (Harald Schrott), durch dessen Operationen Erika auch äußerlich zum Mann wurde.
„Erik & Erika“ erzählt eine wilde, oftmals tragische Geschichte, die starke aktuelle Bezüge hat, auch wenn sie 50 Jahre zurückliegt. Stichwort MeToo: Wenn man im Film sieht, mit welcher Macho-Arroganz und Frauenverachtung die Offiziellen, Funktionäre und auch Sportler den Fall Schinegger behandeln, dann kommen einem die jüngst geäußerten Mißbrauchs-Vorwürfe ehemaliger Stars aus Österreichs Damen-Skiteam sehr plausibel vor.
Filmisch wirkt „Erik & Erika“ auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Regisseur Reinhold Bilgeri hat keinen cool-distanzierten Ansatz gewählt, um die Schinegger-Story zu erzählen. Ganz im Gegenteil: Die lodernden Gefühle der Hauptfigur finden ihre Entsprechung in lodernden Bildern. In seiner emotionalen Wildheit erinnert der Film an expressionistische Dramen.
Die Darsteller arbeiten oft mit großen Gesten und drastischem Mienenspiel, wie es im Stummfilm nicht verkehrt wäre. Da aber Könner wie Cornelius Obonya, August Schmölzer oder Marianne Sägebrecht am Werk sind, kommen die Dialoge exakt und trocken aus den Lautsprechern. Die Mischung aus verbaler Präzision und visuellem Überschwang verleiht „Erik & Erika“ einen ungewöhnlichen und ganz eigenen Reiz.
Die Sympathien gehören jedenfalls von der ersten bis zur letzten Minute Erik(a) Schinegger, dessen/deren Leidens- und Erfolgsgeschichte von Markus Freistätter sehr berührend dargestellt wird. Auch Freistätter neigt nie zur Zurückhaltung, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht. Und weil das sehr gut zu diesem grotesken, aber wahren Schicksalsdrama passt, geht man als Zuschauer gerne mit.
IDEAL FÜR: alle Filmfreunde, die auf der Leinwand eine der ungewöhnlichsten (und verlogensten) Episoden der österreichischen Sportgeschichte miterleben wollen.