Woody Allen über seinen Film „Irrational Man“


„Manchmal ist Mord moralisch vertretbar“

12.11.2015
Interview:  Matthias Greuling

Am Set von „Irrational Man“: Woody Allen mit Emma Stone und Joaquin Phoenix © Warner Bros.

In seinem neuen Film „Irrational Man“ erzählt Altmeister Woody Allen von einem Philosophie-Professor (Joaquin Phoenix), der zwischen Alkohol und Depression am Leben zu zerbrechen droht. Doch dann hat er eine für ihn rettende Idee: Er will den Peiniger einer Frau ermorden, deren Wehklagen er nur zufällig mitgehört hat. Würde dieser Mensch nicht mehr leben, wäre die Welt ein Stückchen besser, ist der Professor überzeugt und möchte damit den philosophischen Worten der großen Denker endlich praktischen Sinn verleihen. Im Interview erzählt Woody Allen über sein Verhältnis zu Schauspielern – und er plaudert über Mord und Philosophie.


FilmClicks: Mr. Allen, Ihr neuer Film „Irrational Man“ fällt wieder durch seine besonders gut ausgedachte Besetzung auf; das scheint eine Ihrer größten Stärken zu sein: Die richtigen Schauspieler für die richtigen Parts zu finden. Stimmen Sie dem zu?
Woody Allen: Nun, ich selbst mag den Prozess des Castings gar nicht. Deshalb habe ich meine Mitarbeiter, die mir Gesichter vorschlagen. Ich sehe keinen Sinn darin, die Schauspieler bei einem Casting zu quälen. Sie sind nervös dabei, ich bin es auch. Stellen Sie sich doch einmal diese fürchterliche Situation vor. Sie betreten einen Raum, in dem 15 andere Menschen sind, die mindestens so gut sind wie Sie, und Sie wollen diesen Job so unbedingt, dass Sie alles daran setzen, ihn zu bekommen, in dieser erniedrigenden Situation, in der Sie von einem Blatt ablesen und Ihnen drei Leute zuhören, die Sie ganz streng mustern. Also, ich bitte Sie, das ist doch fürchterlich, oder? Mir tun die Schauspieler richtig leid. Deshalb versuche ich, diese Castings möglichst kurz zu halten. Meistens spreche ich nur ein paar Minuten mit den Darstellern.
 
Auf welcher Basis treffen Sie dann Ihre Entscheidungen, wer die Rolle kriegen soll?
Meist weiß man schon, wen man da vor sich hat und was er oder sie zu leisten imstande ist. Meine Casting-Experten zeigen mir sehr oft im Vorfeld Videos und Filmausschnitte, um die Arbeit der Schauspieler beurteilen zu können. Da sehe ich dann oft zehn verschiedene Dinge, die ein Schauspieler gemacht hat, also jeweils eine oder zwei Minuten davon, das genügt. Erst dann entschließe ich mich, ob ich den Schauspieler treffen will..
 
Aber ist es nicht besser, man kennt einander, wenn man so lange Zeit zusammen verbringt wie an einem Filmset?
Für mich ist es ein dummes Ritual. Ich kenne bereits die Fähigkeiten meines Gegenübers. Wenn er oder sie kommt, dann schütteln wir uns die Hände und haben uns in Wahrheit überhaupt nichts zu sagen.

„Es gibt keine Schauspieler, mit denen ich befreundet bin“: Woody Allen mit Emma Stone in Cannes © Katharina Sartena

Freunden Sie sich mit manchen Ihrer Schauspieler an?
Nein, es gibt keine Schauspieler, mit denen ich befreundet bin. Ich engagiere ja Vollprofis. Ich habe Emma Stone besetzt. Sie hat ihr eigenes Leben und ich habe meines. Sie kommt, stellt sich vor die Kamera und macht ihr Ding. Ich sage vielleicht manchmal: „Mach‘ das mal etwas weniger wütend“ oder „Mach‘ das etwas langsamer“, aber das meiste, was sie tut, ist korrekt. Hier endet die Zusammenarbeit. Ich sage niemals: Sollen wir vielleicht gemeinsam Lunch haben oder uns zum Dinner treffen oder unser Wochenende zusammen verbringen.
 
Was gibt es über Joaquin Phoenix zu sagen, den Sie hier als abgehalfterten Philosophie-Professor besetzt haben?
Joaquin ist ein sehr netter Typ. Er ist immer pünktlich am Set, kennt seinen Text, ist sehr zuvorkommend. Hinzu kommt: Der Typ hat eine ganz eigene Qualität. Wenn man ihn irgendwo sitzen sieht, dann macht er einen wahnsinnig gequälten Eindruck. Und das, obwohl es gar keinen Grund dafür gibt, dass er so dreinschaut. Auch, wenn rundherum alles fröhlich ist, irgendetwas geht in ihm vor, dass er sich so gequält fühlt. Ich weiß nicht, was das ist. Wenn man ihn fragt: „Kann ich dieses Glas Wasser haben?“, dann macht er daraus einen Hamlet; es dauert Minuten, bis er damit fertig wird, dass man das Glas Wasser haben will. Er ist wahnsinnig kompliziert. Und genau deshalb war er perfekt für diesen zerstreuten College-Professor. Ich musste ihm keinerlei Anweisungen geben. Er brauchte nur vor der Kamera zu stehen und seinen Text zu sagen. Er sah aus wie ein Lehrer mit Burn-out-Syndrom, der vor sich hinleidet.
 
Dieser Professor hat gleich zwei Affären gleichzeitig. Was zum Teufel sehen diese Frauen in ihm?
Eine der beiden schläft grundsätzlich mit jedem am Campus, weil sie sich in ihrer Ehe gefangen fühlt. Emma Stone wiederum spielt eine Studentin, und die verknallen sich logischerweise in ihre Lehrer, das war schon immer so. Dabei muss der Lehrer gar nicht gut aussehen. Ich finde nämlich nicht, dass Joaquin besonders gutaussehend ist. Wenn Brad Pitt der Lehrer ist, dann verlieben sie sich in ihn, weil er hübsch aussieht. Doch weit mehr Frauen bekommen einen Stand auf ihren Lehrer, weil er verletzlich ist, weil er ihre Hilfe braucht und selbstzerstörerisch ist. Das hört man immer wieder: Junge Studentinnen, die auf ihre Lehrer stehen.

Joaquin Phoenix & Emma Stone: „Studentinnen verlieben sich immer in ihre Lehrer“ © Warner

Ist der College-Professor, der Leute umbringen will, weil er die Welt verbessern möchte, ein wenig wie Woody Allen?
Ich hoffe nicht, dass Joaquin eine Kopie von mir spielt. Das sicher nicht. Aber natürlich habe ich mir schon oft überlegt, jemanden zu töten. Wie alle Menschen.
 
Wen wollten Sie umbringen?
Lassen Sie es mich so sagen: Wenn ich alle Leute umbringen würde, die ich umbringen will, wäre ich der einzige Überlebende auf der Welt.
 
Glauben Sie, dass Mord legitimierbar ist?
Ja, unter gewissen Umständen schon. Ich gebe Ihnen ein absurdes Beispiel: Wenn Sie wüssten, dass jemand einen Anschlag auf eine Schule plant, um dort 500 Kinder zu töten, dann würden Sie ihn doch vorher töten, das wäre moralisch zu rechtfertigen, oder nicht? Sie hätten damit 500 unschuldige Kinder gerettet. Das ist ein extremes Beispiel. Aber solche Situationen gibt es.
 
Soll das heißen, wir sollten uns nun alle vorsorglich bewaffnen?
Natürlich muss unser Zusammenleben auf der Basis von Gesetzen stattfinden, und niemand sollte aufeinander schießen. Aber wenn es Fälle gibt, in denen durch den Tod eines Menschen weit schlimmere Verbrechen verhindert werden können, dann ist das moralisch vertretbar. Ein gutes Beispiel ist Hitler. Hätte man ihn getötet, wäre die Welt wohl ein besserer Ort geworden. Meinen Sie nicht? Und es gäbe eine Reihe von Leuten, auf die diese These zuträfe.
 
Wieviel wissen Sie eigentlich über Philosophie?
Meine erste Frau, Harlene Susan Rosen, die ich in sehr jungen Jahren heiratete, brachte mich zur Philosophie, denn sie studierte damals, und ich hatte bis dahin gar nichts mit Philosophie am Hut. Ich war ihr Opfer, sie hat mit mir ihre Hausarbeit gemacht und die Philosophen durchdekliniert. Als ich dann die Bergman-Filme entdeckte, merkte ich, dass sie eine dramatisierte Version dieser Philosophien waren. Für mich war das alles wie ein Puzzle, das ich mir stückweise zusammensuchen musste. Als ich erst einmal verstanden hatte, wie Philosophie funktioniert, wurde sie für mich eine sehr freudebringende Disziplin, ähnlich magischen Tricks oder dem Jazz.
 
„Irrational Man“  ist bereits Ihr 45. Film. Sind Sie so ehrgeizig und sagen: 50 sollen es unbedingt werden?
Um Gottes Willen, nein! Ich werde Filme machen, solange man mir das Geld dafür gibt und solange ich einigermaßen gesund bin. Eines Tages wird man mir vielleicht kein Geld mehr geben, dann war’s das. Oder ich habe einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt, dann ist es auch vorbei.
 
Ihre Eltern sind sehr alt geworden.
Das stimmt. Mein Vater war über 100 Jahre alt, meine Mutter 96. Wenn Gene in unserem Leben also eine Rolle spielen, dann sollte man das an mir als Beispiel sehen können. Doch jetzt sagen die Mediziner, dass die Gene in Hinblick auf die Länge des Lebens überhaupt keine Rolle spielen. Sie beeinflussen Dinge wie ein schwaches Herz oder Asthma oder Gelenkserkrankungen, aber wie lange das Leben dauert, ist darin nicht festgeschrieben.
 
Ich habe Sie nun zum zehnten Mal interviewt. Ist es eigentlich so, dass ich alles, was sie je gesagt haben, wieder drucken dürfte?
Wahrscheinlich schon. Ich verfalle nämlich nur körperlich. Meine Haare werden weißer, meine Augen schlechter, meine Ohren auch. Ich bin nicht mehr derselbe wie vor 20 Jahren. Alles andere ist gleich geblieben. Ich bin in keiner Weise reifer geworden. Insofern: Ja, schreiben Sie einfach nochmal, was ich Ihnen schon erzählt habe.



Kritik
Irrational Man
Woody Allen, der am 1. Dezember 2015 seinen 80. Geburtstag feiert, hat mit seinem neuen Film „Irrational Man“ eine rabenschwarze Komödie geschaffen. Mehr...