Hans Hurch


Der Viennale-Direktor im FilmClicks-Gespräch: „Ich sehe 800 Filme pro Jahr"

13.08.2013
Interview:  Gunther Baumann

Seit 1997 im Amt: Hans Hurch ist der Rekordhalter unter den Viennale-Direktoren © Viennale

„Die Betriebstemperatur ist noch nicht am Siedepunkt, aber schon sehr hoch", sagt Hans Hurch. Der Langzeit-Direktor der Viennale meint damit nicht den heißen August, sondern das aktuelle Arbeitsklima in der Zentrale des Wiener Filmfests (24. Oktober - 6. November). Zehn Wochen vor der Eröffnungs-Gala hat die Stress-Phase längst begonnen. Im FilmClicks-Interview berichtet Hans Hurch über kommende Filmhits und ankommende Stars, über die Programmauswahl und sein bisweilen schwieriges Verhältnis zum österreichischen Film, über Kunst und Geld und seine unbändige Lust auf Kino: „Ich kann mich noch immer total freuen, wenn ein Film beginnt!"


FilmClicks: Herr Hurch, wie viele Filme schauen Sie sich jedes Jahr an?
Hans Hurch: Viele. So zirka 800.
 
Das heißt, Sie sehen im Schnitt jeden Tag mehr als zwei Filme.
Ja. Bei Festivals sind es manchmal auch vier oder fünf Filme pro Tag. Ich schaue mir aber nicht jeden Film vom Anfang bis zum Ende an. Das Minimum sind 20 Minuten, das sagt meine innere moralische Uhr. Nach 20 Minuten hat man ein Gefühl dafür, ob einem ein Film zusagt oder nicht. Ein Film, von dem ich nur diese 20 Minuten anschaue, wird ganz sicher nicht bei der Viennale laufen. Umgekehrt sehe ich viele Filme komplett, die dann nicht zur Viennale kommen.
 
Wie weit steht das Viennale-Programm jetzt im Sommer schon fest?
Ich würde sagen, zu drei Vierteln. Das letzte Viertel ist sehr wichtig, weil es das Festival abrundet. Es sollte bei der Viennale immer so sein, dass wir die Pflichtfilme zeigen, die das Kinojahr bestimmen. Und dazu möchten wir möglichst viele Filme zeigen, die bei uns nicht ins Kino kommen. Das trifft vor allem auf Dokumentationen zu.
 
Können Sie bereits einige Höhepunkt der Viennale 2013 nennen?
Ich möchte noch nicht zu viel über die Filme sagen. Aber wir werden zum Beispiel „Inside Llewyn Davis“ zeigen, den neuen Film von Joel & Ethan Coen über die New Yorker Folkmusik-Szene um 1960. Dann möchte ich „Jeune & Jolie“ von Francois Ozon bringen. Es wird aber auch eine ganze Reihe von Entdeckungen geben, etwa einen ganz ungewöhnlichen kanadischen Film, der heißt „The Dirties“ und handelt von einer Schusswaffen-Attacke in einer High School. Aus Österreich wird zum Beispiel „Oktober November“, der neue Film von Götz Spielmann, zu sehen sein.
 



Gibt es ein Rezept, wie ein Viennale-Programm zusammengestellt werden soll?
Nein. Ich beurteile jeden Film für sich. Aber in der Summe baut sich dann aus diesen einzelnen Filmen etwas zusammen, das ein gemeinsames Bild ergibt. Da wird dann eine Linie erkennbar. Wenn ich mit der Arbeit an einem neuen Viennale-Programm beginne, stehe ich, was die aktuellen Filme betrifft, stets vor einer leeren Leinwand, und ich fange bei Null an. Bei den Specials und Retrospektiven denkt man natürlich weiter voraus. Die Retrospektive der Viennale 2013 etwa ist Jerry Lewis gewidmet. Das wollte ich schon lange machen. Oder: Wir haben uns heuer darum bemüht, Shirley MacLaine nach Wien zu holen. Doch wir haben eine Absage von ihr bekommen – eine freundliche Absage. Aber vielleicht schaffen wir es nächstes Jahr, sie zum Festival zu bringen. Und da haben wir natürlich schon Ideen, welche Filme wir zu diesem Anlass zeigen würden. 
 
Wie wichtig sind andere Filmfestivals als Quelle für das Viennale-Programm?
Für ein Festival wie die Viennale sind die sehr wichtig. Wir sind ja kein A-Festival, wir müssen keine internationalen Premieren machen. Was in Cannes, Venedig und Berlin gezeigt wird, hat – in dieser Reihenfolge - große Bedeutung für uns. Über all die Jahre, die ich den Job schon mache, ist überdies ein Netzwerk an Kontakten und Informanten entstanden. Durch die Tipps, die ich von diesen Leuten erhalte, bin ich schon oft auf sehr schöne Filme gekommen. Auch aus dem Internet erhalte ich viele Informationen.

Die Viennale zeigt jedes Jahr um die 150 abendfüllende Spielfilme und Dokumentationen. Haben Sie alle diese Filme gesehen, bevor das Festival beginnt?
Es sind jedes Jahr vielleicht drei oder vier Filme dabei, die ich nicht gesehen habe. Aus dem einfachen Grund, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Etwa, wenn wir einen Film vom Festival Toronto, das im September stattfindet, nach Wien bringen. Alle anderen Filme habe ich gesehen.
 
Man könnte also sagen, die Viennale ist ein Hans-Hurch-Festival.
Die Viennale ist ein Filmfestival. Und von der Programmauswahl ein Hans-Hurch-Festival. Ich sage aber immer einschränkend, wäre dies ein wirkliches Hans-Hurch-Festival, dann würde ich vielleicht nur 20 oder 25 Filme zeigen. Denn wenn man die wirklich wichtigen Filme eines Jahres auswählt, dann kommt man nicht auf 150 Titel. Doch es ist eine objektive Herausforderung für mich, dieses größere Programm zu bedienen. Ich würde übrigens niemals mit einer Kommission über die Filmauswahl entscheiden wollen. Das finde ich dem Filmemacher gegenüber unwürdig. Wenn man mit mehreren Leuten über Filme diskutiert – ich kenne das aus Jurys – dann landet man oft beim Mittelmaß. Die wirklich radikalen und ungewöhnlichen Filme setzen sich so nicht durch.
 
Haben sich Ihre Kriterien im Lauf der Jahre verändert?
Man muss auch manchmal gegen seinen eigenen Geschmack entscheiden – und ich glaube, da habe ich im Lauf der Jahre etwas gelernt. Am Anfang war ich viel unfreier, und ich habe versucht, meinem Image zu entsprechen: Der Hurch, das ist der kritische und unbestechliche Mann, der vom „Falter“ kommt. Ich hoffe, dass ich so geblieben bin – aber zugleich bin ich beim Programm offener geworden. Es interessieren mich heute, etwa im Genre-Kino, mehr Filme als früher. Ich glaube, man kennt das Kino nur, wenn man es in allen Facetten kennt.
 
Die Viennale als Publikumsmagnet: Volles Haus im Wiener Gartenbau-Kino © Viennale


Sie ernten immer wieder Kritik für Ihr schwieriges Verhältnis zum österreichischen Film.
Nehmen wir Michael Haneke, zu dem ich im Lauf der Jahre ein gewisses ambivalentes Verhältnis entwickelt habe. Das ist – auch wenn es überheblich klingen mag – eine Art von Wertschätzung: Ich spüre an ihm vieles, das mir sehr nahe ist, sehr viel Österreichisches. Da wird man sich an so einem Mann vielleicht etwas stärker abarbeiten als bei anderen.  Manchmal war ich aber auch kindisch, oder ich wurde provoziert. So wie 2012 beim Konflikt mit Ulrich Seidl, als es um die Beginnzeiten seiner „Paradies“-Filme ging. Das ist aber auch irgendwie Marketing: Der Konflikt mit Ulrich Seidl, so dumm er war, hat keinem von uns beiden geschadet. Vernünftiger wäre es gewesen, wir hätten uns arrangiert und die Filme gezeigt. Ich glaube aber, dass mein Verhältnis zum österreichischen Film generell besser ist als der Ruf, den ich hier habe. Ich schaue mir sehr viel an, auch kleine Erstlingsfilme. Und ich zeige unterm Strich bei der Viennale relativ viele österreichische Filme.
 
Die Viennale hatte 2012 insgesamt 96.600 Besucher. Wäre es Ihnen wichtig, die Hunderttausender-Marke zu überschreiten?
Nein, auch wenn das kokett klingen mag. Natürlich sind die guten Besucherzahlen eine messbare Anerkennung für uns. Das ist wichtig für die Politik, für die Sponsoren, und auch für unsere Eigen-Einnahmen. Ob wir aber ein paar Tausend Zuschauer mehr oder weniger haben, ist nicht wirklich entscheidend für die Viennale. Bei uns ist es immer so, dass schon am ersten Vorverkaufstag sehr viele Filme ausverkauft sind. Das ist einerseits schön. Andererseits muss ich aber aufpassen, dass sich das Interesse nicht auf bestimmte Filme verengt. Ich erzähle den Mitarbeitern, die den Vorverkauf machen, sehr viel über das Programm. Dadurch können sie den Käufern Tipps für Alternativen geben, wenn der Wunschfilm schon voll ist. So helfen die großen Filme auch den kleineren Produktionen.

Die Viennale hat ein Budget von knapp 2,9 Millionen Euro. Kommen Sie damit gut aus?
Nun, andere Festivals, etwa Locarno, haben viel höhere Budgets, bei denen ich immer ganz schwindlig werde. Aber ich beklage mich nicht. Ich finde, wir haben ein schönes Budget, auch wenn wir ein bisschen mehr vertragen könnten. Auf eines bin ich stolz: 45 Prozent unseres Budgets kommen nicht aus öffentlichen Geldern, sondern aus der Eigenfinanzierung, aus dem Kartenverkauf und von den Sponsoren. Wir bekommen 1,5 Millionen Euro von der Stadt Wien, 150.000 Euro vom Bund, und den Rest finanzieren wir selber.
 
Kultstücke: Die Viennale-Taschen sind eine Erfindung des Sponsors A1 © www.stadt-wien.at


Die Viennale hat – abgesehen von den Filmen – jedes Jahr ein besonderes Highlight: Die Viennale-Tasche, die längst ein Kultstück ist.
Stimmt, das hätte ich nie für möglich gehalten. Viennale-Taschen werden heute auf eBay verkauft, sie sind Sammler-Objekte und es gibt Leute, die die Taschen tauschen. Das hat eine Eigendynamik bekommen. Die Idee zu den Taschen kam von unserem Sponsor A1, der auch jedes Jahr die Farben und das Design auswählt. Der Erfolg mag mit dem gleichen Prinzip zusammenhängen wie in Friedrich Torbergs Geschichte von den Schinkenfleckerln der Tante Jolesch: Es sind immer zu wenige da. Jedes Jahr werden 2.000 Viennale-Taschen produziert, und man kann sie nicht im Handel kaufen. (Lacht) Manchmal habe ich schon das Gefühl, die Leute interessieren sich mehr für unsere Tasche als für das Programm.

Stargast: Viennale-Chef Hans Hurch mit Tilda Swinton © Robert Newald

 
Es ist zur Tradition geworden, dass jedes Jahr ein großer Star zur Viennale kommt. Wie wichtig ist das für das Festival?
Die Stars sind insofern wichtig, als sie uns ein erweitertes Medieninteresse bringen. Man ist im Fernsehen, man ist in vielen Zeitungen, und das weckt wieder Aufmerksamkeit für das Festival. Wir achten immer darauf, Stars zu bringen, die mit dem Festival kompatibel sind: Lauren Bacall, Jane Fonda oder Tilda Swinton etwa, Harry Belafonte oder im letzten Jahr Michael Caine. Das Thema Stars kann aber auch zur Falle werden, weil man jetzt von uns erwartet, dass berühmte Gäste kommen. Das ist nicht immer ganz einfach. Ich hätte heuer wahnsinnig gern Vanessa Redgrave eingeladen; sie würde zur Viennale passen wie Harry Belafonte. Sie wäre auch gekommen – doch sie spielt während der Viennale-Tage Theater. Jetzt sind wir an zwei Leuten dran, einem Mann und einer Frau, die beide sehr gut passen würden. Der Standort Wien hilft übrigens, weil viele Leute gern hierher kommen.

Die Viennale hat mit Eric Pleskow einen Präsidenten, der in seiner Kindheit aus Wien vertrieben und dann – Stichwort „Einer flog über das Kuckucksnest“ oder „Amadeus“ - zu einem der erfolgreichsten Studiobosse und Produzenten in Hollywood wurde. Wie wichtig ist Pleskow für das Festival?
Er ist zunächst einmal ein Mensch, den ich über alles schätze. Und der auch in der ganzen Stadt sehr geschätzt wird, von Bürgermeister Michael Häupl beginnend. Eric breitet einen Schutzmantel über der Viennale aus, und es ist schön, dass ein Filmfest in Wien einen Präsidenten mit seiner Vita hat. Einen Mann, der unter fürchterlichsten Bedingungen aus dieser Stadt verjagt wurde und der dann die Großzügigkeit zeigte, nach so vielen Jahren zurückzukehren. So einen Präsidenten werden wir nicht mehr finden.

"Er breitet einen Schutzmantel über der Viennale aus": Festival-Präsident Eric Pleskow © Viennale

 
Ihr Vertrag als Viennale-Direktor wurde bis 2016 verlängert: Sie werden dann 20 Jahre in dieser Funktion verbracht haben.
Ich sag‘ jetzt mal was total Freches: Die besten Jahre meines Lebens habe ich diesem Festival gewidmet. Ich bin jetzt 60, und ich habe meine Funktion immer mit vollem Einsatz ausgeübt. Natürlich habe ich den Job auch immer gern gemacht. Ich kann mich noch immer total freuen, wenn ich im Kino sitze und ein Film beginnt. So lange das funktioniert, so lange freut es mich auch, meinen Beruf auszuüben. Aber irgendwann ist es aus.