„Armut wurde nie porträtiert“
03.01.2014
Interview:
Peter Beddies
Der Filmemacher Edgar Reitz, der in den 1960er Jahren mit dem Slogan „Papas Kino ist tot“ den deutschen Autorenfilm mitbegründete, ist ein Rekordhalter in Sachen Ausdauer. Seine vielfach preisgekrönte Filmreihe „Heimat“, deren erster Teil 1981 erschien, hat mittlerweile eine Gesamtlänge von rund 60 Stunden erreicht. Jetzt hat Reitz, 81, „Die andere Heimat“ ins Kino gebracht. Schauplatz ist einmal mehr die fiktive deutsche Landgemeinde Schabbach, doch die Geschichte geht weit zurück: Sie spielt im Jahr 1840, als viele Deutsche an die Auswanderung dachten.
FilmClicks: Seit mehr als 30 Jahren beschäftigen Sie sich in Ihren Filmen immer wieder mit dem Thema Heimat. Warum lässt Sie das nicht los?
Edgar Reitz: Ich selbst bin in einem Dorf im Hunsrück aufgewachsen. Schon früh habe ich mit dem Schreiben und Fotografieren angefangen. Mit 17 oder 18 wusste ich, dass ich Filmemacher werden wollte. Die Antwort in meinem Dorf war Gelächter. Also war mir klar, dass ich weg musste. Und was passierte in den Städten? Ich bekam Heimweh. Aber als ich dann wieder mal nach Hause kam, stellte ich fest, dass da auch keine Heimat mehr war. Alles – inklusive meiner selbst – hatte sich verändert. Seit dieser Zeit fasziniert mich der Begriff der Heimat. Und wird mich wohl auch nie mehr verlassen.
Wo liegt Heimat für Sie?
In meinen Filmen. Heimat ist für mich kein Raum, den man betreten oder besitzen kann. Aber man kann wunderbar Geschichten darüber erzählen.
Bisher haben Sie in Ihrer „Heimat“-Filmreihe chronologisch erzählt. Beginnend mit dem Jahr 1919. Nun gehen Sie mit „Die andere Heimat“ ins 19. Jahrhundert, in den Vormärz. Wollten Sie diese Zeit rekonstruieren?
Edgar Reitz: Nein. Ich wollte nicht diese andere Zeit zurückkehren, die wir nur von Fotos und nicht vom Film her kennen. Ich erzähle davon, was in diesen Jahren im Hunsrück passiert ist, aus meiner heutigen Sicht. Es gibt den historischen Fakt der Auswanderungswelle. Um 1840 sind sehr viele Menschen aus der Region, weil sie sich das Leben in Deutschland nicht mehr leisten konnten, nach Südamerika ausgewandert. Mich hat nun interessiert, das an Charakteren zu erzählen. Warum dachten die Menschen: „Hier bin ich und dort ist das Glück!“.
Stand von Anfang an fest, dass Sie wieder nach Schabbach und zur aus Ihren Filmen bekannten Familie Simon zurückkehren würden?
Nein, das ist mir erst nach und nach klar geworden. Da ich kein Dokumentarist bin, erzähle ich fiktive Geschichten. Das ist mit diesem Film nicht anders als bei den Vorgängern. Im Dokumentarfilm hätte ich mich an die Realität halten müssen. Aber mich interessiert die Fiktion viel mehr. Also bin ich irgendwann darauf gekommen, dass ich wohl wieder in das nicht existierende Dorf Schabbach zurückkehren würde.
Die Gebäude im Film – vor allem eine Schmiede – sehen sehr echt nach Bauten des 19. Jahrhunderts aus. Wo findet man so etwas heute noch?
Nirgendwo mehr. Wir haben gesucht und gesucht. Alles war modernisiert und verändert. Was ja auch völlig klar ist. Aber dann haben wir ein Dorf gefunden, das noch ungefähr wie damals aussah. Warum Sie das Gefühl haben, dass es echt ausschaut: Wir haben Gebäude, die dort stehen, genommen und haben unsere Kulissen darüber gebaut. Ich habe mich gefragt, was heute noch aus der damaligen Zeit erhalten ist. Es sind oft nur die Grundrisse. Also haben wir die Grundrisse aus dem 19. Jahrhundert genommen und konnten so eine lebendige Geographie entstehen lassen. Ein Jahr Arbeit, bis alles fertig war. Aber es hat sich gelohnt.
Wie schwer fällt die Recherche über die damalige Zeit?
Generell ist das kein Problem. Es gibt noch kein Filmmaterial, weil der Film erst später erfunden wurde. Man hätte sehr viele Bücher und Dokumente studieren können. Das eigentliche Problem aber, es gibt kaum etwas über die Schicht, die wir hier zeigen. Denn Armut wurde nie portätiert. Die Maler haben immer die Reichen gemalt und nur sehr selten die Armen der Gesellschaft. Wir haben uns zum Beispiel gefragt, welche Möglichkeiten sie hatten. Die Menschen hatten kein Geld. Es gab keine Architekten für ihre Häuser. Die mussten sie selber bauen. Sie hatten ihren Hof und das, was Tier und Boden hergaben. Sie mussten alles, was sie essen wollten, selbst produzieren. Sie hatten selbst gemachte Kleider, die sie einmal im Leben bekamen und die dann halten mussten.
Gibt es noch Kleidung aus der Zeit, an der Sie sich orientieren konnten?
Wenn man sich einmal auf die Suche beginnt, staunt man, wie viele Sachen noch auf Dachböden und in Scheunen lagern. Früher wurden diese wertvollen Dinge von Generation zu Generation vererbt. Heute sind sie vergessen. Fast alle Stoffe, die Sie im Film sehen, stammen noch aus der damaligen Zeit, Wir haben bei Hunderten Familien in der Region sehr viel Material gefunden und daraus Anzüge und Kleider nähen lassen. Übrigens nicht auf Maschinen sondern mit der Hand. Wir wollten uns so verhalten, wie die Menschen damals sich verhalten haben. So sollte diese Welt entstehen.