Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht
Der Traum von der Neuen Welt
DIE STORY: Deutschland im 19. Jahrhundert. „Die andere Heimat“ trägt nicht umsonst den Untertitel „Chronik einer Sehnsucht“. Denn die Hauptfigur Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) hält es nicht länger in seinem Dorf Schabbach im Hunsrück aus. Der Bauernsohn passt so überhaupt nicht in seine Umgebung. Er liest jeden Tag, lernt andere Sprachen gleich im Dutzend und träumt sich in Phantasiewelten hinein. Besonders sein Vater hat dafür kein Verständnis und macht ihm das Leben zur Hölle. Jakob hört von vielen Menschen in seinem Umfeld, dass sie nach Brasilien auswandern. Dort möchte er auch hin.
DIE STARS: Es ist sehr selten, dass bei einem Film nicht die Schauspieler die Stars sind sondern der Regisseur. Und Edgar Reitz ist auch kein typischer Star. Der eher scheue deutsche Filmemacher entwirft seit Jahrzehnten immer wieder Heimat-Geschichten um das fiktive Dorf Schabbach. Es fehlt nicht mehr viel, bis er in Rekordlisten auftaucht.
KURZKRITIK: Ja, man braucht für diesen Film ordentlich Sitzfleisch. Insgesamt 225 Minuten dauert dieser faszinierende Schwarz-Weiß-Ausflug ins Jahr 1840. Aber dafür bekommt man etwas geschenkt, das im heutigen Kino Seltenheitswert hat. Edgar Reitz entwirft eine Welt, die man anschauen kann, ohne dass alle paar Sekunden etwas weggeschnitten wird. Alle Figuren bekommen genau die Tiefenschärfe, die man braucht, um sie zu verstehen. Es entsteht das Bild einer Zeit, von der es keine Filmaufnahmen gibt. Aber dank Edgar Reitz bekommt man die Chance, in diese Zeit einzutauchen.
IDEAL FÜR: Menschen, die das Kino nicht nur als Ort begreifen, in dem sie sich unterhalten lassen. Diese sinnliche Reise ist zu empfehlen für alle Entdecker von neuen/alten Filmwelten.
FilmClicks Kritik. Mittlerweile gibt es fast 60 Stunden, die über „Heimat“ erzählen. Die Serie ist auf dem besten Weg, zur längsten Filmreihe aller Zeiten zu werden. Vor mehr als 30 Jahren hat Regisseur Edgar Reitz begonnen, Geschichten aus dem Hunsrück zu erzählen. Mit Preisen überhäuft und vom Arthaus-Publikum geliebt, erzählen diese Filme von den Schicksalen der Familie Simon aus dem fiktiven Dorf Schabbach. In dieses kehrt der mittlerweile 80jährige Reitz nun wieder zurück. Mit einer Besonderheit. Er erzählt zum ersten Mal von den Jahren kurz vor 1848.
Der Bauernsohn Jakob (Jan Dieter Schneider in seiner allerersten Filmrolle ist eine Offenbarung) hat es daheim nicht leicht. Seine Familie würde es gern sehen, wenn er so wäre, wie sein großer Bruder Gustav. Der ist gerade aus einem Krieg zurückgekehrt und widmet sich nun wieder der Arbeit auf Hof und in der Schmiede. Jakob jedoch liebt es, Bücher über fremde Welten zu lesen. Er studiert regelrecht Dialekte brasilianischer Ureinwohner. Sprachen haben es ihm angetan.
Jakob hofft, dass er all sein Wissen eines Tages anwenden kann, wenn er auf Reisen geht. Die Möglichkeit ergibt sich unverhofft, denn Gustav bandelt ausgerechnet mit der Frau an, von der auch Jakob träumt. Also nimmt Jakob das Angebot an, nach Brasilien umzusiedeln. Aber ein letztes Mal stellt sich ihm der Bruder in den Weg.
Edgar Reitz schafft es mit traumwandlerischer Sicherheit, ein Universum auf der Leinwand zu errichten, das man staunend betritt und in dem man gern fast vier Stunden bleibt. Nichts fühlt sich hier wie am Computer zusammengezimmert an. Alle Bauten sind echt. Die Kostüme ebenfalls. Der einzige Kunstgriff, aber selbst der funktioniert glänzend. Reitz hat seinen Film normal in Farbe gedreht, dann das Material in Schwarz-Weiß umrechnen lassen. Nur hin und wieder tauchen ein paar kleine bunte Einsprengsel auf.
Sicher hätte man in den vier Stunden ein paar Minuten einsparen können. Aber warum? Nur wenn man die ganze Zeit diesem Leben zuschaut, entsteht ein Sog, den sich viele Filmemacher erträumen, den aber nur die allerwenigsten Meister hin und wieder mal erreichen.