Toni Erdmann

Entfesselte Pointen und große Gefühle


FilmClicks:
„Toni Erdmann“: Vater (Peter Simonischek) und Tochter (Sandra Hüller) gehen auf Distanz © Filmladen
DIE STORY: Die Tragikomödie „Toni Erdmann“, die in Cannes zum Sensations-Erfolg wurde,  erzählt in klaren Bildern völlig unaufgeregt die sehr groteske Geschichte eines Vaters und seiner Tochter, die nach einer Zeit der Entfremdung langsam wieder zueinander finden.
Winfried (Peter Simonischek) ist der Vater: Ein Musiklehrer Mitte 60, dem von der Familie außer der alten kranken Mutter nur noch der ebenso alte Hund geblieben ist.
Tochter Ines (Sandra Hüller) reist als Unternehmensberaterin um die Welt. Momentan arbeitet sie in Rumänien, möchte aber eigentlich in Shanghai die nächste Stufe der Karriereleiter erklimmen.
Ines ist ein eiskalter Engel im Business-Anzug, das Telefon ständig am Ohr. Als sie eines Tages für wenige Tage nach Deutschland kommt, verspricht ihr der Vater, dass er sie eines Tages vielleicht mal spontan besuchen wird.
Die Gelegenheit ergibt sich schneller als gedacht. Denn Winfrieds Hund stirbt und der Mann reist kurz entschlossen nach Bukarest. Allerdings fliegt er nicht allein. Er hat als zweites Ich den titelgebenden Toni Erdmann mit im Gepäck. Wann immer er als Toni auftreten will, setzt sich Winfried eine furchtbar hässliche Perücke auf, schiebt sich falsche Zähne in den Mund und wird - man kann es nicht anders sagen - zum Bruder der Hape-Kerkeling-Kultfigur Horst Schlämmer.
Als Toni Erdmann macht Winfried die schlechtesten Scherze, die man sich vorstellen kann. Er lacht an den unpassendsten Stellen. Und genau damit fällt er in Bukarest auf. Er wird ungewollt zum Star. Und mit der Tochter scheint wieder eine Versöhnung möglich.

Der Vater (Peter Simonischek) ist ein Fremdkörper in der Business-Welt von Ines (Sandra Hüller) © Filmladen

DIE STARS: Zwei Ausnahmekönner tragen dieses Monstrum von einer Tragikomödie. Der Wiener Burgschauspieler und langjährige Salzburger „Jedermann“ Peter Simonischek (derzeit auch mit dem Teenie-Drama „Smaragdgrün“ im Kino) präsentiert sich als Vater in höchster Spiellaune. Die Leipzigerin Sandra Hüller („Requiem“) als Tochter ist wie immer eine Sensation. Wie die beiden als höchst ungleiches Duo einen Wahnsinn nach dem nächsten entfesseln, das muss man gesehen haben!

Ein grotesker Höhepunkt des Films: Eine Party mit wenig Textil © Filmladen

DIE KRITIK: „Toni Erdmann“ dauert 162 Kinominuten. Das ist eine Längen-Liga, in der eigentlich nur Quentin Tarantino und Superheldenfilme unterwegs sind. Die deutsche Regisseurin Maren Ade, die schon für ihren Film „Alle anderen“ bei der Berlinale 2009 preisgekrönt wurde, traut sich was. Sie erzählt die Geschichte einer Tochter und ihres Vaters in eben dieser Länge. Sie langweilt kein bisschen. Nicht eine Minute ist dieser sehr liebevoll gemachte Film zu lang. Und es fliegen keine Autos actionmäßig durch die Luft, alle Gebäude bleiben stehen und auch der Blutzoll hält sich sehr in Grenzen.
Die Reise der beiden durch Rumänien gehört zu den schönsten Trips, die in den letzten Jahren im Kino erzählt wurden. Mit dem ganz großen Kino-Atem verwebt Maren Ade hier Tragisches (wie etwa das Übel, das durch Firmenübernahmen ausgelöst wird) mit schreiend komischen Szenen.
In der Schlüsselsequenz des Films singen Vater und Tochter “The Greatest Love Of All” von Whitney Houston. Der Text dieser Schnulze passt perfekt in den Kontext des Films. Sandra Hüller ermordet dieses Lied nicht nur. Sie macht es sich zu eigen. Entreißt es Whitney und macht daraus das Lied ihres Lebens.
In der komischsten Szene des Films, die wunderbar Drama und Boulevard-Komödie miteinander vereint, kommt Sandra - sonst immer top gekleidet - auf die Idee, ihren Geburtstags-Brunch zur Nackt-Party zu erklären. Die Reaktionen der Gäste, der Umgang mit der Nacktheit und ein Überraschungsbesuch des Vaters: Hier kommt alles zusammen, was wunderbar befreiende Momente im Kino ausmacht, bei denen das Publikum sich vor Lachen nicht mehr einkriegt.
Fazit: „Toni Erdmann“ ist ein eminent witziger Film, und ein sehr kluger noch dazu. Maren Ade hat nach den Dreharbeiten im Jahr 2014 bis zum Frühjahr 2016 daran gearbeitet. Das hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. Die deutsch-österreichische Koproduktion verdient jeden Preis, den diese Filmwelt zu vergeben hat.
           
IDEAL FÜR: Alle Filmfreunde, die einer brillanten, sorgsam beobachteten Familien-Tragikomödie etwas abgewinnen können, bei der das Publikum immer abwechselnd ein bisschen weint und lauthals lacht.






Trailer
LÄNGE: 162 min
PRODUKTION: Deutschland / Österreich 2016
KINOSTART Ö: 15.07.2016
REGIE:  Maren Ade
GENRE: Drama|Komödie
ALTERSFREIGABE: ab 16


BESETZUNG
Peter Simonischek: Winfried Conradi / Toni Erdmann
Sandra Hüller: Ines Conradi
Michael Wittenborn: Henneberg
Ingrid Burkhard: Annegret

Interview
„Eine wunderbare Kino-Verführung“
„Es geht darum, genügend Realität in den Wahnsinn zu legen“, sagt Peter Simonischek über seine Arbeit als Schauspieler. Für seine Rolle im Cannes-Superhit „Toni Erdmann“ wird Simonischek jetzt gefeiert. FilmClicks traf ihn während des Festivals zum Interview. Mehr...