Der Anständige

Heinrich Himmler: Der Unanständige


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Gut gelaunter Schreckensmann: Heinrich Himmler, der Reichsführer SS der Hitler-Diktatur © Filmladen
DIE STORY: Die Doku „Der Anständige“ widmet sich dem Leben, den Gedanken und den Taten eines der größten Verbrecher der Hitler-Diktatur: Heinrich Himmler (1900 – 1945). Der Nazi der ersten Stunde (er trat bereits 1923 der NSDAP bei) wurde 1934 zum Reichsführer SS und damit zum Chef der Deutschen Polizei ernannt. In dieser Funktion wurde er zu einem der wesentlichen Verantwortlichen des Holocaust. Himmler beging am 23. Mai 1945 Selbstmord.
Der Filmtitel bezieht bezieht sich auf einen Brief, den Himmler 1941 seiner zwölfjährigen Tochter Gudrun schrieb: „Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein – und gütig“. Zitate sind ein wesentliches Element in „Der Anständige“. Das Werk, nach Definition der Produzenten „kein historischer Dokumentarfilm, sondern eine filmische Biografie“, verzichtet auf Kommentare. Die Texte stammen großteils von Himmler selbst, von seiner Frau und anderen Familienmitgliedern.
„Der Anständige“ stützt sich auf das umfangreiche Briefmaterial von und über Himmler, das 1945 vor der Zerstörung gerettet werden konnte und das sich heute in israelischem Besitz befindet. Die Texte werden illustriert mit Filmmaterial aus der Lebenszeit Himmlers. Die bewegten Bilder zeigen nicht nur den Nazi-Funktionär, sondern auch den Alltag in den Jahrzehnten vor und während der Hitler-Diktatur.
 
DIE FILMEMACHER: Die in Belgien geborene israelische Autorin und Regisseurin Vanessa Lapa ist die Frau hinter „Der Anständige“. Sie schrieb (mit Ori Weisbrod) das Skript und inszenierte den Film. Eine wichtige Rolle kommt auch dem Sound Designer Tomer Eliav zu, der das Bildmaterial, das zum Teil ja aus der Stummfilmzeit stammt, zu einem Tonfilm umgestaltete.
Als Sprecher wurden bekannte Schauspieler aus Österreich gewonnen. Tobias Moretti spricht die Texte von Heinrich Himmler, Sophie Reus jene von Marga Himmler, der Ehefrau des Reichsführers SS. Auch Florentin Groll, Lotte Ledl sowie Tobias Morettis Kinder Antonia und Lenz sind zu hören.
 
Die Bedrohung: Aufmarsch einer Nazi-Truppe © Filmladen

DIE KRITIK:  Hannah Arendt prägte während des Eichmann-Prozesses den Begriff von der „Banalität des Bösen“ der Nazi-Diktatur. Die Verbrechen von Heinrich Himmler, einem der Wegbereiter des Massenmordes an den Juden, sind so gewaltig, dass sich das Attribut banal verbietet. Doch der Film „Der Anständige“ liefern einen schaurigen Eindruck von den streckenweise sehr banalen Gedanken, die dem Reichsführer SS bei der Kommunikation mit seiner Familie durch den Kopf gingen. „Eine Frau wird von einem rechten Mann auf drei Arten geliebt: Als geliebtes Kind, als Gattin und als Göttin“, heißt es da einmal in bleierner Biederkeit.
Die martialischen Töne behielt sich Himmler für seine Reden auf. Dann wählte er Formulierungen, die von den IS-Terroristen unserer Tage stammen könnten: „Die beste politische Waffe ist die Waffe des Terrors. Grausamkeit verlangt Respekt. Die Menschen mögen uns hassen, aber wir verlangen nicht ihre Liebe, sondern ihre Furcht und Unterwerfung.“
Hier die läppischen, säuselnden und von Zwanghaftigkeit kündenden Alltagsberichte Himmlers (er versah jeden Brief an seine Frau mit einer fortlaufenden Nummer). Dort die Nazi-Diktion, der mörderische Taten folgten: Die Doku  jagt den Zuschauer im Galopp durch einen Parcours der Unmenschlichkeit.

Das Private: Heinrich Himmler mit Familie © Filmladen

Gewiss, manchmal hätte man gern ein paar Kommentare, um die Zitate präziser einordnen zu können. Doch die besondere Form dieses Films, dessen Text nur aus Worten der handelnden Personen besteht,  gewährt tiefe Einblicke in die Denkweise des Reichsführers SS, die einem bei einer Collage aus seinen öffentlichen Auftritten verborgen bleiben würde.
Wenn Heinrich Himmler schreibt, „Wir Landsknechte des deutschen Freiheitskampfes sollten eigentlich einsam und verfemt bleiben“, dann offenbart sich eine seltsame Mischung aus Selbstüberhöhung und Weinerlichkeit. Von der bemerkenswerten Wortwahl mal abgesehen: „Landsknechte des Freiheitskampfes“ – wie kann man ein Knecht der Freiheit sein?
Der private Charakter vieler Zitate wird geschickt kontrapunktiert mit der sehr öffentlichen Bildsprache des Films. Heinrich Himmler ist zwar allgegenwärtig, aber gar nicht so häufig im Bild. Logischerweise gibt es keine Filmaufnahmen aus seiner Kindheit und Jugendzeit. Da zeigt Vanessa Lapa Collagen aus dem Alltagsleben des frühen 20. Jahrhunderts – und auch Bilder aus dem Krieg, wenn in der Chronologie das Jahr 1914 erreicht ist.
Diesem Stil bleibt das Werk dann bis zum Finale im Jahr 1945 treu. Abgesehen von den Worten aus  Heinrich Himmlers Kosmos bietet „Der Anständige“ ein konzentriertes und visuell fesselndes Abbild des Lebens in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass das Material, zum Großteil ohne Ton gedreht, durch eine sehr aufwendige akustische Bearbeitung zum Tonfilm umgebaut wurde, ist ein Kunstgriff, der manchmal ein wenig irritiert, aber seine  Wirkung nicht verfehlt.
Die Sprecher um Tobias Moretti und Sophie Rois mag es immer wieder Überwindung gekostet haben, den Sprachmüll der Himmler-Sippe neutral aufs Band zu bannen. Sie alle machen ihre Sache ganz ausgezeichnet.
Gegen Ende bekommt man das Motiv des Anstands, das Himmler gegenüber seiner Tochter verwendete, noch einmal zu hören. Es ist der schrecklichste Satz des Films. Der Reichsführer SS im Jahr 1943 vor SS-Offizieren über den Massenmord an den Juden: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.“
So sprach der Mann, der sich zwei Jahre später durch Selbstmord davor davonstahl, sich der Verantwortung für seine Verbrechen zu stellen.
 
IDEAL FÜR: alle Zeitgeschichte-Interessierten.






Interview
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LÄNGE: 94 min
PRODUKTION: Israel / Österreich / Deutschland 2014
KINOSTART Ö: 24.10.2014
REGIE:  Vanessa Lapa
GENRE: Dokumentation
ALTERSFREIGABE: ab 14


BESETZUNG
Tobias Moretti: Heinrich Himmler (Stimme)
Sophie Rois: Marga Himmler (Stimme)
Florentin Groll: Gebhard Himmler (Stimme)