Toronto. Es wird viel spekuliert und gemunkelt in den Schlangen vor den Kinos. Und davon gibt es viele. Ganz Toronto scheint anzustehen, die Wartenden vor den Kinos ziehen sich nicht selten um mehrere Blocks. In Zweierreihen. Groß ist der Hype um das Festival geworden, und der Torontoer an sich geht einfach gern ins Kino.
Der einzige Preis, der bei diesem Publikums-Festival vergeben wird, ist ein Publikumspreis, per Abstimmung von den Besuchern gewählt. Die Sieger der letzten Jahre haben alle Oscar-Nominierungen bekommen - wenn nicht sogar den Oscar. Der Sieger in diesem Jahr: „Twelve Years A Slave“ von Steve McQueen.
Sklaverei. Der Film erzählt – auf wahren Begebenheiten beruhend – vom Schicksal des Afrikaners Solomon Northup, der in den 1840ern als ehrenwerter Bürger Washingtons entführt und als Sklave verkauft wird.
Chiwetel Ejiofor (ein Name, dessen Aussprache die Academy ins Schwitzen bringen wird) spielt Northup mit enormer physischer Präsenz und großem Schmerz in den Augen. Er lässt alle körperlichen Schmähungen und rassistischen Anfeindungen seiner Eigentümer (Benedict Cumberbatch und Michael Fassbender) über sich ergehen. Kommentar eines britischen Journalisten-Kollegen: „Twelve Years a Slave“ sei genau der Film, den Spike Lee gerne drehen würde.
Der dunkelhäutige britische Künstler und Filmemacher Steve McQueen, der mit seinen Filmen „Hunger“ und „Shame“ als radikaler Regisseur gilt, wird seinem Ruf hier mehr als gerecht – vom Oscar allerdings will er nichts wissen: „Meine Erwartungen sind schon übertroffen. Denn ich habe den Film gemacht. Es meinten viele, der Film sei unmöglich zu drehen. Aber wir haben es geschafft. Ich habe alles gegeben, jede Zelle meines Körpers in dieses Projekt gestürzt. Das ist es jetzt für mich.“
Bei der Premiere von „Twelve Years a Slave“ im „Princes of Wales-Theater“ von Toronto, zu der auch Brad Pitt kam (er ist Produzent und spielt eine Nebenrolle), war es nach dem brutalen Geschehen auf der Leinwand erst einmal mucksmäuschenstill – bis tosender, nicht mehr abebben wollender Applaus aufbrandete.
Aids-Drama. Konkurrenz bekommt „Twelve Years A Slave“ von „Dallas Buyers Club“ mit Matthew McConaughey, Jared Leto und Jennifer Garner.
Jean-Marc Vallée hat seinen Hauptdarsteller mehr als 40 Kilo abnehmen lassen. Das eingefallene Gesicht von McConaughey ist auf den ersten Blick erschreckend. Der Film spielt 1986. Als HIV-infizierter Elektriker namens Ron Woodroof, der auf Rodeo und schnellen Sex im Kuhstall steht, kämpft McConaughey nach der Aids-Diagnose gegen die Pharmakonzerne und für eine bessere medizinische Behandlung – und wirft dabei sein eigenes Weltbild über Schwule über den Haufen.
Dieser Sinneswandel entsteht durch die Begegnung Woodroofs mit einem Transvestiten, der von Jared Leto grandios gespielt wird. Leto wurde in Toronto folglich oft als Kandidat für den Oscar des besten Nebendarstellers genannt. Hier fiel aber auch der Name eines Deutschen, der einen Österreicher spielt: Daniel Brühl überzeugte als Niki Lauda in „Rush“.
Meryl Streep. Nachdem Judi Dench mit dem Drama „Philomena“ seit dem Festival Venedig als heiße Oscarkandidatin gilt, muss sie sich seit Toronto auf starke Konkurrenz einstellen: Meryl Streep. Die spielt in „August: Osage County“ eine herrische, an Krebs erkrankte Mutter, die in gepflegtem Overacting und mit von Chemotherapie gezeichneter Kurzhaarfrisur ein Wochenende lang ihre Familie in den Wahnsinn treibt.
Der Ensemblefilm mit Julia Roberts, Abigail Breslin, Ewan McGregor, Benedict Cumberbatch, Chris Cooper beruht auf dem gefeierten, gleichnamigen Bühnenstück von Tracy Letts: eine dysfunktionale Familie mit exakter Figurenzeichnung.
Traurig und schön. Der allerschönste und allertraurigste Film von Toronto: „The Disappearance of Eleanor Rigby“. Das Drama, nach Art der Double Features aufgeteilt in zwei Filme von insgesamt 190 Minuten, handelt von einem jungen Paar (James McAvoy und Jessica Chastain) in einer existenziellen Krise. Einmal wird die Geschichte aus seiner Sicht geschildert, einmal aus ihrer. Der Film lässt genauso viel offen, wie er erzählt. Doch gerade diese Spielräume entfalten eine enorme Wucht, die dazu verleiten, nach 190 Minuten den Film noch mal zu gucken. Diesmal vielleicht andersrum. Erst ihre Perspektive, dann seine.
Enttäuschung. Aber es gibt in Toronto auch Enttäuschungen: „Third Person“ von Oscar-Preisträger Paul Haggis zum Beispiel. Ein Episodenfilm, der im Kopf eines Schriftstellers entsteht (Liam Neeson), der mit seiner Geliebten (Olivia Wilde) in Paris zum Schreiben verweilt. Seine Geschichte entsteht nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Bildern. Realität und Fiktion fangen an sich zu vermischen. Paul Haggis hat sich hier ordentlich verhoben. Doch so etwas gehört zu einem Filmfestival eben auch dazu. Nebeneffekt: Vereinzelte Enttäuschungen lassen bei den Beobachtern die filmischen Entdeckungen in einem noch helleren Licht erstrahlen.