Filmfest Venedig

Von Mortensen bis Pasolini

04.09.2014
von  Gunther Baumann
Viggo Mortensen - hier beim Fotocall in Venedig - beeindruckte mit dem Kriegsdrama „Loin des hommes“ © Katharina Sartena
„Pasolini“ von Abel Ferrara wurde am 4. September ein später Höhepunkt  im Wettbewerb von Venedig. Die Jury, die am 6. September den Goldenen Löwen vergibt, hat es schwer und leicht zugleich. Schwer, weil es im höchst durchschnittlichen Wettbewerb des 71. Festivals am Lido nur wenige goldverdächtige Produktionen gibt. Und leicht, weil dann nicht mehr viele der 20 Kandidaten übrigbleiben, über die es sich für die Juroren (unter ihnen die Wiener Regisseurin Jessica Hausner) zu debattieren lohnt. Etliche Festival-Beobachter haben bisher US-Produktionen wie den Eröffnungsfilm „Birdman“, das Ökonomie-Drama „99 Homes“ oder die Gewalt-Doku „The Look of Silence“ vorn.  Ein Blick auf „Pasolini“ und auf zwei weitere Wettbewerbsfilme, die Aufmerksamkeit verdienen: „Loin des hommes“ mit Viggo Mortensen und „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ von Roy Andersson.
„Pasolini“: Willem Dafoe gelingt ein sensibles Porträt des legendären Filmemachers © LaBiennale

„Pasolini“

Genre: Biografie/Drama. Regie: Abel Ferrara (USA). Star-Faktor: Hoch (Willem Dafoe). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Der New Yorker Regisseur Abel Ferrara ist für blutige Kinowaren wie „Bad Lieutenant“ oder „Body Snatchers“ bekannt. Sein neuer Film „Pasolini“ fällt da völlig aus dem Rahmen. Ferrara stellt den letzten Tag im Leben des großen italienischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini nach, der am 2. November 1975, erst 53 Jahre alt, von seinem letzten Lover mit dem Auto überfahren und getötet wurde.
Abel Ferraras „Pasolini“  beginnt mit Aufnahmen aus „Die 120 Tage von Sodom“  - dem letzten Film, den der italienische Regisseur vollendete. Er endet mit dem gewaltsamen Tod Pasolinis am nächtlichen Strand nahe Rom.  Dazwischen liegt eine Collage aus biografischen, politischen und künstlerischen Szenen, in denen US-Star Willem Dafoe den Italiener sensibel als sehr ruhigen und bestimmten Mann porträtiert, der zugleich seine sexuellen Obsessionen voll auslebt.
Üblicherweise wollen Filmbiografien ein Bild zeichnen, das die Protagonisten einem breiten Publikum näherbringt. Im Fall von „Pasolini“ ist das anders. Hier kann es nicht schaden, schon vor dem Kinobesuch über Leben und Werk des Filmemachers, Autors und linken Aktivisten Bescheid zu wissen. Abel Ferrara liefert kein konservatives Bio-Pic, sondern ein Pasolini-Puzzle, dessen Bausteine man selbst zusammenfügen kann. Dass der Film Szenen aus Pasolinis letztem, nicht verfilmten Drehbuch nachstellt und einfügt, ist einerseits ein eindrucksvoller Kunstgriff – und andererseits für Nicht-Auskenner verwirrend.
Für Cineasten, die Pier Paolo Pasolinis poetische, politische und sexuell sehr drastische Filme lieben, eröffnet Abel Ferrara aber ein Fenster zu dem Künstler, das viele neue Einblicke gestattet.
Kino-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit. Gesamteindruck: Ungewöhnliches Bio-Pic, das Pasolini-Kenner begeistern wird.
 
 
„Loin des hommes“: Reda Kateb (li.) und Viggo Mortensen als ungleiches Gespann © LaBiennale

„Loin des hommes“
Genre: Drama. Regie: David Oelhoffen (Frankreich). Star-Faktor: Hoch (Viggo Mortensen, Reda Kateb). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
US-Star Viggo Mortensen („Herr der Ringe“) demonstriert im französischen Kriegsdrama „Loin des hommes“ seine beachtlichen Sprachkenntnisse. In akzentfreiem Französisch, erweitert um einige Szenen auf Arabisch, spielt er einen Lehrer, der sich während des Algerien-Kriegs 1954 sein eigenes kleines Idyll errichtet hat. Unbeirrt von der Gewalt ringsum bringt er den Kids in einem Tal im Atlas-Gebirge Lesen und Schreiben bei.
Eines Abends klopft es an der Tür dieses Lehrers namens Daru. Ein anderer Franzose schleppt einen Gefangenen an, Mohamed (Reda Kateb), der wegen einer Mordanklage vor Gericht gestellt werden soll. Und Daru soll den Weitertransport des Mannes in die nächste Stadt übernehmen.
Der Lehrer nimmt Mohamed erst mal die Fesseln ab. Am nächsten Morgen ziehen die beiden los durch die Wüste des Gebirges, wo Gefahren, aber auch Freuden warten. Die beiden geraten in ein mörderisches Gefecht zwischen französischen und algerischen Einheiten, wobei sich herausstellt, dass Daru im Zweiten Weltkrieg ein Offizier im Kampf gegen die Deutschen war.  Die beiden Wanderer überleben. Sie kommen in ein Dorf, wo Daru seinem Begleiter, der noch nie ein Verhältnis mit einer Frau hatte, ein Schäferstündchen mit einem Freudenmädchen spendiert. Und sie kommen ins Gespräch.
Daru weiß, dass der Prozess für Mohamed  mit einem Todesurteil enden würde. Er findet, dass dieses nicht angemessen wäre. Er redet auf seinen arabischen Begleiter ein, den Weg  zurück ins Leben zu gehen. Wegen eines vertrackten familiären Hintergrunds wäre Mohamed bereit, die Strafe auf sich zu nehmen. Doch die Worte des Franzosen zeigen Wirkung.
An einer Weggabelung trennen sich die Wege der beiden. Links geht es in die nahe Gerichtsstadt. Rechts in die Wüste, wo sich Mohamed Beduinen anschließen könnte…
„Loin des hommes“ beruht auf einer Kurzgeschichte von Albert Camus. Der Film, der streckenweise wie ein arabischer Western wirkt, hat viele spannende  Passagen, unterbrochen von klugen Dialogen über Krieg und Freiheit. Viggo Mortensen nennt das Drama einen „subversiven Film“, denn: „Hier geht es darum, dass verfeindete Seiten miteinander reden und sich in der Mitte treffen. Das ist in unserer Zeit sehr selten geworden.“     
Kino-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit. Gesamteindruck: Spannendes Kammerspiel im Western-Stil.
 
„Eine Taube saß auf einem Ast und reflektierte über die Existenz“: Groteskes Kino aus Schweden © La Biennale

„Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“

Genre: Groteske. Regie: Roy Andersson (Schweden). Star-Faktor: Null. Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Diese Groteske aus Skandinavien hat im Original natürlich einen schwedischen Titel, aber den wollen wir uns ersparen. Der 71-jährige Regisseur Roy Andersson, der sich zwischen seinen Filmen stets viele Jahre Zeit lässt, hat einen sehr skurrilen Film gedreht. Das Werk beginnt als schwarzhumorige Groteske, wird dann zur reichlich schrägen Geschichte über zwei Scherzartikelverkäufer, um schließlich in Langeweile zu  versacken.
Es geht los, so die Kapitel-Überschriften, mit „Drei Begegnungen mit dem Tod“. Ein Mann wird vom Herzinfarkt dahingerafft, als er eine Weinflasche entkorken will. Eine sterbende alte Dame will, umringt von den Erben, sich die Handtasche nicht nehmen lassen, in der sie ihre Reichtümer aufbewahrt. Als ein weiterer Mann tot auf dem Boden eines Selbstbedienungsrestaurants liegt, geht es vor allem um die Frage, wer nun sein Bier trinken soll, das schon bezahlt ist.
Dann treten die unglücklichen Scherzartikelverkäufer auf. Sie haben Dracula-Zähne und Lachsäcke im Angebot, die keiner will. Als Zuschauer will man anfangs durchaus mitverfolgen, was aus den beiden wird. Doch die bemüht originellen Dialoge werden zusehends flacher, den Reflexionen über die Existenz geht immer mehr die Luft aus. Der Stil: Dada meets Kaurismäki. Der tiefere Sinn bleibt verborgen.
Kino-Chancen: Gering. Gesamteindruck: Ein Spaß, der keiner ist.