„The Danish Girl“
Genre: Drama. Regie: Tom Hooper (Großbritannien). Star-Faktor: Hoch (Eddie Redmayne, Alicia Vikander, Matthias Schoenarts, Amber Heard, Sebastian Koch). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Bei diesem Drama flossen viele Tränen: Auf der Leinwand, aber auch im Publikum, vor Rührung. Regisseur Tom Hooper („The King’s Speech“) erzählt in „The Danish Girl“ die wahre Geschichte des dänischen Malers Einar Wegener (Eddie Redmayne), der um 1920 in der Kunstszene von Kopenhagen Furore machte und mit seiner Frau Gerda (Alicia Vikander) – auch sie eine Malerin – ein aufregendes Eheleben führte.
Doch langsam veränderten sich Einars Prioritäten. Er entdeckte seine Leidenschaft für Frauenkleider. Nicht nur das: Er legte sich eine zweite, weibliche Persönlichkeit zu, in der er sich Lili Elbe nannte. Irgendwann war ihm auch das zu wenig. Die Frau im Körper eines Mannes wollte eine Frau im Körper einer Frau sein. 1930 war Einar/Lili einer der ersten Menschen, der sich operativ einer Geschlechtsumwandlung unterziehen ließ. Die Operationstechnik war noch unerprobt. Lili starb 1931 an den Folgen der Behandlung.
„Einar/Lili war außerordentlich mutig in einer Zeit, in der es noch kein Verständnis für die Transsexualität gab und keinen Weg in die Freiheit“, sagte Regisseur Tom Hooper in Cannes. „In den Gesprächen mit Eddie Redmayne legten wir seine Rolle von Anfang an so fest, dass er eine Frau spielt, die sich langsam zu erkennen gibt, und nicht einen Mann, der versucht, wie eine Frau zu wirken.“
Der Brite Eddie Redmayne, der im Februar 2015 den Oscar des besten Darstellers gewann (er spielte den schwer behinderten Physiker Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“) legt einmal mehr eine furiose Leistung hin. Sehr still, leidend und couragiert, geht sein Einar den Weg zu Lili, zur Weiblichkeit.
Noch fulminanter agiert allerdings Alicia Vikander als Gerda Wegener. Die 26-jährige Schwedin, die 2015 schon im Science-Fiction-Hit „Ex Machina“ und im Actionthriller „Codename U.N.C.L.E.“ begeisterte, ist eine der Entdeckungen des Kinojahres. Ihre Gerda Wegener ist eine furchtlose, hochbegabte und sinnliche Abenteurerin, die in unverbrüchlicher Solidarität zu ihrem Lebensmenschen Einar/Lili steht.
Fazit: „The Danish Girl“ ist ein aufregender Film mit einem sehr berührenden Thema. Das einzige Manko für viele Besucher in Venedig: Tom Hooper hat aus dem Drama ein Melodram gemacht, das mit schwülstiger Musik und viel Schmalz die Ereignisse auf der Leinwand noch überhöht. Wie sagt man so schön: Weniger wäre hier mehr gewesen.
Kinochancen: Potenzieller Hit. Gesamteindruck: Ein hoch emotionales Drama über Transsexualität. Kinostart: November 2015.
„Equals“
Genre: Science-Fiction-Drama. Regie: Drake Doremus (USA). Star-Faktor: Hoch (Kristen Stewart, Nicholas Hoult). Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Wie wäre es, in einer Welt zu leben, in der es keine Konflikte, aber auch keine Gefühle mehr gibt? Der US-Indie-Filmer Drake Doremus stellt sich das im Science-Fiction-Film „Equals“ so vor: Alle Menschen sind gleich (und zwar weiß) gekleidet. Sie wohnen in einer massiv vernetzten (und damit auch kontrollierten) Welt in luxuriösen Trabantenstädten, von denen aus sie Morgen für Morgen zu eintöniger Arbeit aufbrechen.
Das Dasein ist behaglich, aber stinklangweilig, denn jedes zwischenmenschliche Knistern ist verboten. Als die trotz aller Gleichschaltung recht aufmüpfige Julia (Kristen Stewart) sich in den stillen Winston (Nicholas Hoult) verliebt, lässt das bei der Staatsmacht sofort die Alarmglocken läuten. Julia und Winston werden zwangsweise voneinander getrennt, und der Film wandelt plötzlich einem Shakespearianischen „Romeo & Julia“-Finale entgegen. In letzter Sekunde lässt sich Drake Doremus, der Autor und Regisseur, aber doch noch etwas Originelleres einfallen.
Der Trumpf dieses Films ist natürlich die Mitwirkung von „Twilight“-Star Kristen Stewart, die hier mit Kurzhaarschnitt und weißem Outfit bedeutend unscheinbarer daherkommt, als sie ist.
Unscheinbar wirkt irgendwie auch der ganze Film: Denn wenn man eine Welt ohne Gefühle beschreiben will, muss man natürlich auch eine Welt ohne Gefühle zeugen. Und das wirkt – gefühllos. „Equal“ schlummert eine volle Stunde lang reglos vor sich hin. Erst gegen Ende kommt etwas Spannung auf – in ganz kleinen Dosen.
Die Science-Fiction-Story von Drake Doremus wirkt wie eine gut gemeinte, aber belanglose Etüde. Der Erkenntnisgewinn ist gering, und die Darsteller sind zu gnadenloser Konfliktfreiheit verdammt. In den Worten von Kristen Stewart: „Drake wollte von uns immer, dass wir keine Emotionen zeigen. Wenn wir die Gefühle nur fühlten, aber nicht spielten, dann sei alles richtig.“
Einwand: Dann ist nicht alles richtig. „Equal“ hinterlässt beim Betrachter vor allem gepflegte Langeweile.
Kinochancen: Gering. Gesamteindruck: Netter Versuch eines Science-Fiction-Dramas, das trotz Kristen Stewart scheitert. Kinostart: Noch kein Termin.
„Spotlight“
Genre: Journalisten-Drama. Regie: Thomas McCarthy (USA). Star-Faktor: Hoch (Michael Keaton, Rachel McAdams, Mark Ruffalo, Liev Schreiber, Stanley Tucci). Venedig-Premiere: Außer Konkurrenz.
Das spannende Drama „Spotlight“ gehört einem Genre an, das selten geworden ist und in Zukunft wohl noch seltener wird: „Spotlight“ singt das Hohelied engagierter Journalisten, die einen großen Skandal aufdecken.
In der wahren Geschichte, die dem Film zugrunde liegt, geht es um ein Recherche-Team der US-Zeitung „Boston Globe“, das 2001/02 eine gigantische Affäre um den sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche offenlegte. Mehrere Hundert Pfarrer waren in den Fall verwickelt, der schließlich zum Rücktritt von Bernard Francis Law, dem Kardinal der Diözese Boston, führte.
Der Film verbeugt sich stilistisch vor dem Meisterwerk des Genres, dem Watergate-Drama „Die Unbestechlichen“ mit Robert Redford und Dustin Hoffman. Die Story ist so spannend, dass sie das Publikum mühelos für 127 Minuten im Sessel festschraubt.
Alles beginnt mit einem Auftrag des neuen Chefredakteurs des Globe (Liev Schreiber): Man möge doch einmal überprüfen, was es mit den stets versickerten Gerüchten um Missbrauchsfälle durch Priester auf sich habe. Das „Spotlight“-Team des Zeitung, das sich investigativ um Skandale im Raum Boston kümmert, macht sich an die Arbeit. Michael Keaton, Rachel McAdams und Mark Ruffalo führen die Truppe an, die zunächst auf eine Mauer des Schweigens stößt. Und die dann bald einem Ring von geistlichen Sexualverbrechern auf die Spur kommt, deren Taten alle erwartete Ausmaße sprengen.
Der prächtig gespielte Presse-Thriller zeigt auf mitreißende Art, wie professionelle Journalisten große Geheimnisse aufdecken, die von den Geheimnisträgern mit größter Energie unter den Teppich gekehrt werden. Zugleich ist „Spotlight“ ein melancholischer Schwanengesang auf diese aufwendige Form des Journalismus. Denn durch die globale Medienkrise werden teure Recherche-Teams immer häufiger eingespart.
Regisseur Tom McCarthy: „Das Großkapital hat viele Zeitungen in den Boden gefahren. Vor allem im lokalen Bereich geht viel professioneller Journalismus verloren. Für korrupte Leute ist das prima – niemand hat mehr ein Auge auf sie.“
Kinochancen: Sehr gut. Gesamteindruck: Spannender Presse-Thriller über einen besonders abscheulichen Fall kirchlicher Unmoral. Kinostart: Noch kein Termin.