Filmfest Venedig
Judi Dench und die Suche nach dem verlorenen Sohn
31.08.2013
von
Gunther Baumann
„Ich hätte gern, dass der Papst diesen Film sieht“, sagt Stephen Frears. Der Star-Regisseur („Die Queen“) brachte am 31. August beim Filmfest Venedig sein neues Werk „Philomena“ heraus. Was das den Papst angeht? Der Film handelt von einer unfassbaren, aber wahren Skandalgeschichte aus dem Umfeld der katholischen Kirche, in der es um einen Kindsraub und dessen Vertuschung geht. Judi Dench, die M aus den letzten sieben Bond-Thrillern, erntete tosenden Applaus. Einhellige Meinung: Sie ist unterwegs zur nächsten Oscar-Nominierung. Ihr gelingt das überwältigende Porträt einer unbeugsamen alten Dame, die ihren Sohn sucht, der ihr vor Jahrzehnten von Klosterschwestern entrissen wurde.
Magie. Vierter Tag beim Filmfest Venedig. Die Festival-Routine ist längst eingekehrt: Man sieht großartige Filme, mediokre Filme, gute Filme und zwischendurch auch mal unterirdisch schlechte Filme. Doch dann, unerwartet oft, gibt es diese Momente, in denen die Magie des Kinos fast mit Händen greifbar wird. So wie beim neuen Film von Stephen Frears.
„Philomena“ erzählt die wahre Geschichte der Philomena Lee. Als junges Mädchen ließ sich die Irin auf einem Volksfest von einem Burschen verführen und wurde schwanger. Der Sohn kam in einem Kloster zur Welt. Philomena lebte dort mit anderen „gefallenen Frauen“, die unter einem Regiment schrecklicher Schwestern standen. An jedem Tag durften sie nur eine Stunde zu ihren Kindern. Und eines Tages war der Knabe einfach weg. Philomena sah noch, wie ihr Sohn zu einem Paar in ein Auto gesetzt wurde. Dann verlor sich seine Spur für immer.
Schnitt. Jahrzehntelang hat Philomena, die noch ein zweites Mal Mutter wurde, über ihr Schicksal geschwiegen. Doch dann – es ist der 50. Geburtstag ihres Sohnes – bricht es aus ihr heraus: Sie möchte wissen, was aus dem Sohn geworden ist. Ihre Tochter nimmt Kontakt zu Martin Sixsmith auf, einem Top-Journalisten, der gerade ohne Job dasteht.
Sixsmith (mit trockenem Humor cool gespielt von Steve Coogan), beschließt, eine Reportage über den Kindsraub zu schreiben. Seine Recherchen haben bald Ergebnisse: Offenbar wurde Philomenas Sohn von einem Paar aus den USA adoptiert. Oder besser: gekauft. 1.000 Pfund Sterling waren in den 1950er Jahren das übliche Honorar für ein Adoptivkind aus dem Roscrea-Kloster in Irland.
Sixsmith und Philomena reisen gemeinsam nach Washington. Dort finden sie bald eine heiße Spur – und erleben eine faustdicke Überraschung. Der adoptierte Bub aus Irland wurde unter dem Namen Michael Hess zu einem hohen Tier bei den Republikanern, der im Stab der Präsidenten Reagan und Bush senior diente.
Ende gut, alles gut? Nein. In Wahrheit fängt die ganz große Tragödie jetzt erst an. Und wieder ist die katholische Kirche unheilvoll in den Fall verwickelt, bei dem sie in erbarmungsloser Kälte nicht nur gegen das Gebot der Nächstenliebe, sondern auch gegen achte Gebot (Du sollst nicht lügen) verstößt.
„Dies ist eine schockierende und furchtbare Geschichte, die unbedingt erzählt werden musste“, sagte Judi Dench jetzt in Venedig über ihre Beweggründe, die Rolle anzunehmen. Die tragischen Momente werden im Film freilich immer wieder mit schnoddrigem Humor durchbrochen. Was erstens daran liegen mag, dass die echte Philomena Lee, heute 80 Jahre alt, „eine sehr witzige Person ist“ (Judi Dench). Und zweitens daran, dass die Filmemacher die schwermütige Geschichte etwas auflockern wollten. Stephen Frears: „Wir haben jetzt eine Tragödie, die mit einer optimistischen Komödie verbunden ist. Das ist eine Kombination, wie ich sie mag.“ Der Film soll Anfang 2014 bei uns im Kino starten.
Die echte Philomena Lee, eine gläubige Katholikin, hat der Kirche den Kindsraub und dessen Folgen übrigens verziehen. Judi Dench: „Ich würde gern behaupten, dass ich das in so einer Situation auch könnte. Doch ich glaube, ich könnte es nicht.“