Unberechenbar. „Ich bin jetzt wieder ein freier Mann“, sprach Paul Schrader am 30. August in Venedig vor der versammelten Presse. „In den letzten 16 Monaten war ich freiwillig die Geisel einer sehr talentierten, aber unberechenbaren Schauspielerin.“ Die Rede ist natürlich von Lindsay Lohan und „The Canyons“. Der prominent besetzte Thriller wird gewiss als einer der ungewöhnlichsten Filme aller Zeiten in die Annalen eingehen.
Das düstere Werk basiert auf der Sehnsucht seiner Protagonisten, wieder mit positiven Meldungen ins Rampenlicht zu kommen: Paul Schrader hat zwar mit Werken wie „Taxi Driver“ (Buch) oder „Ein Mann für gewisse Stunden“ (Buch & Regie) Filmgeschichte geschrieben, doch in den letzten Jahren wurde es sehr still um ihn. Ähnliches gilt für den von vielen Thriller-Fans kultisch verehrten Bret Easton Ellis, dessen größter Erfolg „American Psycho“ schon 1991 erschien. Und Lindsay Lohan? Kommentar überflüssig. Die 27-Jährige, die – künstlerisch! – das Zeug zu einer ganz großen Karriere gehabt hätte (man denke nur an Robert Altmans Alterswerk „Last Radio Show“), ist in den letzten Jahren zwischen Rausch und Entzug versackt.
„The Canyons“ ist aber nicht nur wegen seines Personals ein Film, der aus dem Rahmen fällt. Sondern auch finanziell. Das Werk wurde mit einem Budget von nur 150.000 Dollar gedreht, die durch eine Finanzierung via Internet zustande kamen. Das Internet ist definitiv auch der Platz, wo der Thriller hin soll. Paul Schrader: Dies ist der erste Film für das Nach-Kino-Zeitalter. Er ist für multiple Plattformen und vor allem für Video On Demand gemacht.“ Zur Illustration der These vom Dahinsiechen der Lichtspieltheater rückt der Film immer wieder Kino-Ruinen ins Bild.
Was bekommt man nun auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm zu sehen? Optisch ist „The Canyons“ ein erstaunlich eleganter Film, dem man sein Billigsdorfer-Budget in keiner Sekunde anmerkt. Inhaltlich ist das Werk hingegen eine fette Enttäuschung. Der Versuch von Autor Bret Easton Ellis, „einen Film Noir in einem sonnenglänzenden Los Angeles“ zu schreiben, fiel bestenfalls dunkelgrau aus. Es geht um einen Produzenten in Hollywood, der ziemlich sauer darauf reagiert, dass seine Freundin (Lindsay Lohan) ein Verhältnis mit dem Hauptdarsteller seines neuen Films hat. Die Story beginnt mit viel Sex und endet mit Mord und Totschlag. „The Canyons“ ist uninteressant und über weite Strecken schlicht langweilig.
Für Lindsay Lohan wird der Film, so ist zu befürchten, eher nicht die Rückkehr zum künstlerischen Ruhm bedeuten. Sie schaut aus wie eine aufgedonnerte Mittdreißigerin und spielt wie eine durchschnittlich begabte Mimin aus der zweiten Reihe. Auch die meisten anderen Schauspieler, die per Online-Casting gefunden wurden, fallen nicht weiter auf. Positive Ausnahme: Hauptdarsteller James Deen, der sich darüber freute, „so viel Raum zur Entwicklung einer Filmfigur bekommen zu haben wie nie zuvor“. Gut, in seinem Hauptberuf ist die Rollen-Psychologie keine besonders wichtige Anforderung. Mr. Deen verdient sein Geld als Porno-Star.
Nicolas Cage. So viel zu „The Canyons“. Für positive Schlagzeilen am Lido sorgte am Freitag ein ganz anderer Film. Nicolas Cage, der in den letzten Jahren ziemlich weit ins Fantasy- und Action-Genreabdriftete, feierte mit dem archaischen Schicksals-Drama „Joe“ von David Gordon Green sein Comeback als großer Charakterdarsteller.
„Joe“, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Larry Brown, erzählt die Geschichte eines Mannes, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Die Titelfigur sei, so Regisseur Green, „ein letzter Überlebender des Cowboy-Zeitalters - als es in Ordnung war, in einer Bar eine Schießerei anzuzetteln, nach eigenen Gesetzen zu leben und einer Frau zu sagen, wie sie zu leben hat.“
Das Problem dieses Joe ist es freilich, dass er im Texas der Gegenwart lebt; in einer besonders rauen und gewaltdurchtränkten Gesellschaft. Nicolas Cage legt den Working-Class-Helden faszinierend als vollbärtigen Berserker an, der stets bereit ist, zuzuschlagen, sobald seine innere Temperatur den Siedepunkt erreicht. Und dort ist sie fast dauernd. Hinter seiner extrem rauen Schale verbirgt der Mann freilich einen extrem weichen Kern, der freigelegt wird, als er Vatergefühle für einen gequälten Teenager-Jungen entwickelt. David Gordon Green, einer der führenden Köpfe der US-Independent-Szene, hat mit „Joe“ ein tragisches, aber grandioses Werk abgeliefert.