Festival Cannes 2018

Entdeckungen jenseits des Wettbewerbs

17.05.2018
von  Peter Beddies
„The Trouble With You“: Adèle Hanel spielt die Hauptrolle in einer rasanten Polizeikomödie © Quinzaine
Das Festival Cannes besteht nicht nur aus dem Spektakel am Roten Teppich und dem Wettbewerb um die Goldene Palme. Auch in den Nebenreihen warten filmische Schätze darauf, entdeckt zu werden. Zwei davon haben es besonders verdient, vorgestellt zu werden. Der eine, „The Trouble With You“, weil er so lustig, und der andere, „Gräns“, weil er so schräg ist.   
„The Trouble With You“: Audrey Tautou hat gerade nichts zu lachen © Quinzaine

The Trouble With You

Genre: Komödie
Regie: Pierre Salvadori (Frankreich)
Star-Faktor: Hoch (Adèle Haenel und Audrey Tautou)
Cannes-Premiere: In der Reihe Quinzaine des Réalisateurs
„The Trouble With You“ beherzigt den alten Hollywood-Spruch, dass man einen Film am besten mit einem Vulkan-Ausbruch starten und dann langsam steigern soll.
Zu Beginn sieht man, wie eine Wohnungstür aufgesprengt wird. Polizisten stürmen das Appartement in Marseille und beginnen einen aberwitzigen und überbrutalen Kampf gegen Gangster, der nach allerlei Absurditäten gut für die Ordnungsmacht ausgeht.
Schnitt - eine Mutter erzählt ihrem Sohn Théo eine Geschichte. Und zwar jeden Abend dieselbe: Polizeieinsatz in einer Wohnung. Yvonne (Adèle Haenel) stellt den Leiter des Einsatzes als den größtmöglichen Helden da. Théo soll seinen Vater in guter Erinnerung behalten. Denn der Mann ist vor zwei Jahren im Dienst ums Leben gekommen.
Als Yvonne, selbst Polizistin, eine Gruppe von Männern vernehmen soll, die in einem illegalen Sado-Maso-Bordell hochgenommen wurden, beginnt für sie ein  komplett anderes Leben. Denn einer der Männer erzählt ihr eine völlig neue Geschichte von ihrem Mann.
Der war demnach gar kein Held. Er war einer der Bestechlichsten überhaupt. Als bei einem Überfall auf einen Juwelierladen ein Schuldiger gebraucht wurde, hat er einfach den Juwelier Antoine (Pio Marmai) für acht Jahre in Gefängnis gebracht.
Für Yvonne ist völlig klar, dass sie Antoine helfen muss. Die Wahrheit soll ans Licht. Da er aber sowieso in wenigen Wochen entlassen werden soll, um zu seiner Frau Agnès (Audrey Tautou) zurückzukehren, überzeugt sie ihr Kollege Louis (Damien Bonnard), erst einmal zu schauen, wie es Antoine in der Freiheit so geht.
Aus dieser Grundkonstellation zaubert Regisseur Pierre Salvadori eine rasante Komödie mit etlichen Überraschungen, wie man sie so schon lange nicht mehr im Kino gesehen hat.
Zum einen ist der Frust bei Yvonne über ihren gestorbenen Ehemann so groß, dass ihre Gute-Nacht-Geschichten für den Sohnemann immer radikaler ausfallen. Zum anderen setzt ein herrliches Beziehungs-Kuddelmuddel ein. Polizist Louis verliebt sich Yvonne – genauso wie der Juwelier Antoine, der Yvonne für eine Hure und seine Retterin hält.
Yvonne versucht in all dem Chaos den Überblick zu behalten. Was aber komplett schief geht und in einem der absurdesten Juwelier-Überfälle der jüngeren französischen Filmgeschichte mündet.
Hoffentlich entdecken die Verleiher dieses Komödienjuwel und bringen es demnächst (in Frankreich startet der Film im Oktober) auch in unsere Kinos.
Kinostart: Noch keinTermin
Kinochancen: Hoch
Gesamteindruck: Wunderbare Polizei-Komödie, in der es von einer haarsträubenden Aktion zur nächsten geht

„Gräns“: Der verrückteste Film des ganzen Festivals © Festival Cannes

Gräns
Genre: Arthaus / Fantasy
Regie: Ali Abbasi (Iran/Schweden)
Star-Faktor: Gering. Die Hauptdarstellerin Eva Melander könnte man aus dem Skandinavien-Krimi „Der Hypnotiseur“ kennen.
Cannes-Premiere: In der Reihe Un Certain Regard
 „Gräns“ gehört zu den großen angenehmen Überraschungen des Cannes-Jahrgangs 2018. Es ist ein Film nach einer Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist, der schon „So finster die Nacht“, die originellste Vampirgeschichte der letzten 50 Jahre, erdachte.
Die nicht eben sehr vorteilhaft aussehende Polizeibeamtin Tina (Eva Melander) ist an der schwedischen Grenze - daher der Titel „Gräns“ - tätig. Dort steht sie den ganzen Tag am Einreise-Korridor und hält ihre Nase in die Luft. Denn sie hat die besondere Gabe, zu erschnüffeln, ob Menschen Schuld auf sich geladen haben. Das reicht von geschmuggeltem Alkohol bis zum Computerchip mit Kinderpornographie. Eines Tages jedoch erschnüffelt Tina einen Typen (Eero Milonoff), der genau so neandertalermäßig aussieht wie sie und der ihr komplettes Leben auf den Kopf stellen wird.
Was sich nun alles in diesem zu Beginn sehr bedächtig erzählten Film ereignet, darf als  ziemlich einzigartig in der momentanen Filmlandschaft gelten. Denn Regisseur Ali Abbasi entfacht einen irren Geschichtenbogen, in dem nichts so ist, wie es zu Beginn erscheint.
Am Beispiel von Hauptfigur Tina: Sie heißt eigentlich ganz anders. Ihr Leben lang wurde sie von ihren Eltern belogen. Sie ist auch kein Mensch, sondern gehört zu einem Stamm magischer Wesen, die über die Jahrhunderte hinweg von Menschen bekämpft wurden. Nun allerdings schlagen sie zurück. 
Bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Monaten jemand mutig genug ist, diesen kleinen Independent-Wahnsinn ins Kino zu bringen. Oder Netflix krallt ihn sich gleich für die Ausstrahlung. Und macht dann eine Serie daraus. Denn auch dafür hätte „Gräns“ Potenzial.
Kinostart: Noch kein Termin
Kinochancen: Nicht übel. Die phantasievolle Geschichte macht so viele Schlenker, dass Fantasy-Fans ihre Freude haben dürften
Gesamteindruck: Der verrückteste Film des Cannes-Jahrgangs 2018