Toni Erdmann
Genre: Tragikomödie
Regie: Maren Ade (Deutschland)
Starfaktor: international gesehen nicht besonders hoch, aber Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen hinreißend
Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme
162 Filmminuten – das ist eine Längen-Liga, in der eigentlich nur Quentin Tarantino (schon immer) und Superheldenfilme (in letzter Zeit) unterwegs sind. Die deutsche Regisseurin Maren Ade, 2009 für „Alle anderen“ bei der Berlinale preisgekrönt, traut sich was. Sie erzählt die Geschichte einer Tochter und ihres Vaters in eben dieser Länge. Langweilt kein bisschen. Nicht eine Minute ist dieser sehr liebevoll gemachte Film zu lang. Und es fliegen keine Autos durch die Luft, alle Airports bleiben stehen und auch der Blutzoll hält sich sehr in Grenzen.
„Toni Erdmann“ erzählt in klaren Bildern völlig unaufgeregt die Geschichte von Winfried (der Wiener Burgschauspieler Peter Simonischek in höchster Spiellaune). Der Musiklehrer ist Mitte 60. Von der Familie ist ihm außer der alten kranken Mutter nur noch der ebenso alte Hund geblieben. Tochter Ines (Sandra Hüller wie immer eine Sensation) reist als Unternehmensberaterin um die Welt. Momentan arbeitet sie in Rumänien, möchte aber eigentlich in Shanghai die nächste Stufe der Karriereleiter erklimmen.
Ines ist zu Beginn des Films kein sympathischer Mensch. Ein eiskalter Engel im Business-Anzug, das Telefon ständig am Ohr. Als sie eines Tages für wenige Tage nach Deutschland kommt, verspricht ihr der Vater, dass er sie eines Tages vielleicht mal spontan besuchen kommen wird.Die Gelegenheit ergibt sich schneller als gedacht. Winfrieds Hund stirbt. Danach fliegt der Mann kurz entschlossen nach Bukarest. Mit einer zweiten Identität im Gepäck: Winfried nennt sich von nun an Toni Erdmann.
Wann immer es die Situation erlaubt, setzt sich Winfried/Toni eine furchtbar häßliche Perücke auf den Kopf, schiebt sich Teile eines falschen Gebisses in den Mund und wird - man kann es nicht anders sagen - zum Bruder der Hape-Kerkeling-Kultfigur Horst Schlämmer.
Toni Erdmann macht die schlechtesten Scherze, die man sich vorstellen kann. Er lacht an den unpassendsten Stellen. Und genau damit fällt er in Bukarest negativ auf. Seine Tochter ist schockiert, dass der Vater so plötzlich kommt. Die Verwandlung zu einer anderen Person scheint sie schon zu kennen. Denn wenn es etwas gibt, was die beiden noch miteinander verbindet, dann ist es der schwarze Humor, den Vater und Tochter lieben.
Winfrieds Auftritt in Bukarest scheint von kurzer Dauer zu sein. Die Tochter hat keine Zeit für ihn. Er selbst passt so überhaupt nicht in ihre Welt der Unternehmensberatung. Also reist er wieder ab. Denkt zumindest seine Tochter.
Toni Erdmann aber bleibt in Bukarest. Denn er hat sehr schnell gemerkt, dass auch er ein Coach sein kann. Er berät, immer im schlecht sitzenden Anzug und mit Jutebeutel über der Schulter, nun alle, die beraten werden wollen. Und Rat nimmt sich von diesem schrägen Vogel offenbar gern jeder an. Bis auf Ines. Die hat erst ein großes Problem damit, dass sich ihr Vater in ihr Leben einmischt. Aber als sie es akzeptiert, beginnt auch sie zu verstehen. Erst ihren Vater, dann sich selbst.
Die Reise von Vater und Tochter durch Rumänien gehört zu den schönsten Trips, die in den letzten Jahren im Kino erzählt wurden. Mit ganz großem Atem verwebt Maren Ade tragische und schreiend komische Passagen.
In der Schlüsselszene von „Toni Erdmann“ interpretieren Vater und Tochter den Soul-Ohrwurm „Greatest Love Of All“ von Whitney Houston. Der Text dieser Schnulze passt sehr gut in den Kontext des Films. Sandra Hüller macht sich das Lied zu eigen. Sie entreißt es Whitney und lässt daraus das Lied ihres Lebens entstehen (was in Cannes zu Jubelstürmen des Premieren-Publikums führte).
Und dann folgt die komischste Szene des Films, die wunderbar Drama und Boulevard-Komödie miteinander vereint. Ines - sonst immer top gekleidet – kommt auf die Idee, ihren Geburtstags-Brunch zur Nackt-Party zu erklären.
Die Reaktionen der Gäste, der Umgang mit der Nacktheit und ein Überraschungsbesuch des Vaters (der auf eine sehr wundersame Weise irgendwie auch nackt erscheint): Hier kommt alles zusammen, was wunderbar befreiende Momente im Kino ausmacht. Und das Publikum kann sich vor Lachen kaum noch halten.
Fazit: „Toni Erdmann“ ist ein witziger Film, ein kluger dazu über die Entfremdung und das Wieder-Zueinander-Finden zwischeneinem Vater und seiner Tochter. Maren Ade hat nach den Dreharbeiten im Jahr 2014 bis jetzt daran gearbeitet. Das hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. Die deutsch-österreichische Koproduktion verdient jeden Preis, den diese Filmwelt zu vergeben hat.
Kinochancen: hoch, besonders nach der umjubelten Premiere in Cannes
Kinostart: 14. Juli
Gesamteindruck: brillante, extrem sorgsam beobachtete Familien-Tragikomödie, bei der der Zuschauer immer abwechselnd weint und lacht