„Der kleine Prinz“
Genre: Animationsfilm. Regie: Mark Osborne (USA). Starfaktor: sehr hoch (wenn man die Titelfigur als Star betrachtet). Cannes-Premiere: Außer Konkurrenz.
Regisseur Mark Osborne („Kung Fu Panda“) wagt sich an ein Heiligtum der Jugendliteratur: „Der kleine Prinz“. Der Animationsfilm folgt dem Text von Antoine de Saint-Exupéry, gibt ihm aber auch eine Rahmenhandlung mit einem neuen Schluss.
Die ersten Filmminuten lassen Schlimmes befürchten. Zwar hält sich Regisseur Osborne streng an das Original mit der Zeichnung, bei der man je nach Fantasie einen Hut oder eine Schlange sehen kann. Aber dann geht’s zur Story eines kleinen Mädchens, das mit seiner Mutter umzieht und enormem Stress ausgesetzt ist. Das Mädchen lernt aber sehr schnell einen alten Mann im Nachbarhaus kennen (im Original herrlich verpeilt von Jeff Bridges gesprochen), der ihm die Geschichte vom kleinen Prinzen erzählt.
Ab dann wird es wunderbar. Zwar sehen die Figuren in der Rahmenhandlung nach 0815-Computertechnik aus. Doch für die Prinz-Erzählung haben sich die Filmemacher etwas Besonderes ausgedacht. Da kommen Puppen ins Bild, die im ersten Moment vielleicht etwas hölzern wirken, im Laufe der Zeit jedoch echte Magie entfalten.
Nach 75 Minuten ist Saint-Exupérys Geschichte zu Ende erzählt. Das Mädchen mag deren Ende allerdings überhaupt nicht (bekanntlich kehrt der Prinz auf seinen Planeten zurück). Deshalb macht sich die Göre im Film nun selbst auf die Suche nach dem kleinen Prinzen. Natürlich wird sie ihn finden, und es gibt noch ein paar Abenteuer, die Puristen sicher unnötig finden. Trotzdem: Es war eine ausgezeichnete Idee, mal wieder nach dem kleinen Prinzen zu schauen. Die Weisheiten aus den 1940er Jahren berühren heute immer noch.
Kinochancen: Sehr hoch (Filmstart am 10. Dezember). Gesamteindruck: Moderne Computer-Animation eines Märchen-Klassikers, die fast alles richtig macht.
„Chronic“
Genre: Drama. Regie: Michel Franco (Mexiko). Starfaktor: mittel (Tim Roth). Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme.
Jeder will lang leben, gesund bleiben und am Ende schmerzfrei von dieser Erde gehen. Was aber macht die Gesellschaft mit unheilbar und chronisch kranken Menschen? Für die gibt es die Palliativ-Medizin, die Kranke nach besten Möglichkeiten schmerzfrei zum Lebensende begleitet.
In diesem Berufszweig arbeitet im Film-Drama „Chronic“ auch der Pfleger David (Tim Roth spielt ihn faszinierend zurückgenommen auf sparsamster Flamme). Allerdings bietet David, wenn auch ungern, noch weitere Dienste an. Er leistet Sterbehilfe.
Jeden Fall nimmt sich David derart zu Herzen, dass es weit über das Berufliche hinausgeht. Der Zuschauer merkt sehr schnell, dass der Mann wahrscheinlich schon vor langer Zeit eine Linie überschritten hat. Stirbt eine seiner Patientinnen, dann behauptet er im Anschluss in einer Kneipe, seine Frau sei gerade gestorben. Pflegt er einen alten Mann, der Architekt ist, dann geht er in einen Buchladen und gibt sich dort als Architekt aus.
Der Film schont den Zuschauer nicht. Mehrfach werden alte und gebrechliche Körper gezeigt, die David wäscht. Man muss sich regelrecht zwingen, hinzuschauen. Aber da den Szenen jeglicher Voyeurismus fehlt, sind sie ganz stark und machen den Film zu einem Geheimkandidaten auf einen der großen Preise in Cannes.
Kinochancen: Eher mäßig, denn „Chronic“ geht weit über die Schmerzgrenze hinaus. Gesamteindruck: Blitzsauberes Arthaus-Kino.
„Love“
Genre: Erotikdrama. Regie: Gaspar Noé (Argentinien). Starfaktor: Null. Cannes-Premiere: Außer Konkurrenz - Mitternachts-Premiere.
Der Argentinier Gaspar Noé ist Stammgast in Cannes. Seine skandalumwitterten Werke wie das Vergewaltigungs-Drama „Irreversible“ waren stets für Skandale gut.
Doch mittlerweile ist Noé 51 Jahre alt und hat offenbar auf Skandal überhaupt keine Lust mehr. Auch wenn es in seinem neuen Film „Love“ sexuell sehr explizit zur Sache geht.
Die Story: Der Amerikaner Murphy (Karl Glusman) ist nach Paris gekommen, um Filmemacher zu werden. Sein großer Traum ist es, einmal einen Film über echte Liebe und realistischen Sex zu drehen. Als er Elektra (Aomi Muyock) begegnet, verliebt er sich sofort in sie und die beiden haben offenbar den schönsten Sex der Welt.
Bis sie auf die Idee kommen, ihre Nachbarin Omi (Klara Kristin) einzuladen und einen (sehr schön gefilmten) Dreier zu haben. Elektra verreist kurze Zeit später. Murphy schläft noch einmal mit Omi, das Kondom reißt und Murphy wird Vater. Elektra ist sauer, verschwindet und Murphy tut sich fortan unendlich leid.
Gaspar Noé erzählte im Interview mit FilmClicks, dass er mit „Love“ keinen Porno drehen wollte: „Es sollte ein Film übers Scheitern werden. Über einen Mann, der eine Frau sehr geliebt hat. Dazu mussten auch die Sexszenen passen. Leidenschaft ja, aber auf keinen Fall Porno“. Noé hat viel Zärtlichkeit in seine Geschichte gesteckt. Und beim Sex - keine Hardcore-Szenen, aber auch nichts peinlich Verstecktes - ist diese Natürlichkeit zu spüren. Nur leider sind seine Schauspieler keine im klassischen Sinne ausgebildeten. Weshalb das Textaufsagen zum Teil peinlich gerät. Trotz seiner sexuellen Freizügigkeit wird „Love“ also den Liebesfilm ganz sicher nicht revolutionieren.
Kinochancen: Beim Zielpublikum für erotische Filme nicht schlecht. Gesamteindruck: Der Skandalfilmer Gaspar Noé wollte zum ersten Mal in seiner Karriere nicht schockieren. Und das ist ihm gelungen.