„Youth“
Genre: Drama. Regie: Paolo Sorrentino (Italien). Star-Faktor: Hoch (Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz, Jane Fonda). Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme.
Ein altmodisches Luxushotel hoch oben in den Schweizer Alpen. Hier hat man viel Muße und den klaren Blick, hinauf zu sehen, zu den Gipfeln. Oder hinunter, ins Tal. Oder zurück: Auf das eigene Leben. Letzteres tun die in jeder Hinsicht alten Freunde Fred (Michael Caine) und Mick (Harvey Keitel).
Der italienische Regisseur Paolo Sorrentino, der 2013 mit seinem Rom-Porträt „La Grande Bellezza“ den Oscar gewann, widmet sich in seinem neuen Film „Youth“ – dem Alter. Und der Jugend, soweit sie gleichfalls in der Luxusherberge abgestiegen ist, gleich mit.
Die Generationen prallen nicht aufeinander. Sie üben gelegentlich Konversation, sie treiben irgendwie nebeneinander her. In einem der vielen schönen Bilder des Films ruhen Fred und Mick im Swimmingpool. Als eine nackte Schönheit (Rollenname: Miss Universe) zu ihnen ins Wasser steigt, ist der Blick der Herren ganz hinreißend mit Staunen, Sehnsucht und Melancholie gefüllt.
Fred und Mick, beide bald 80, sind berühmte Künstler. Komponist und Dirigent der eine, Filmregisseur der andere. Während Mick emsig an seinem neuen Hollywood-Projekt feilt, hat sich Fred aus der Musikszene zurückgezogen. Was in diesem Fall gar nicht so einfach: Ein Abgesandter des britischen Königshauses wird wieder und wieder vorstellig, um den Dirigenten zu einem Konzert vor der Queen zu bewegen. Doch Fred sagt erstmal nein. Und dann nein. Und nein.
„Youth“ ist eine Kino-Collage ohne großen dramatischen Plot. Paolo Sorrentino reiht kleine Episödchen aneinander, die manchmal zum Nachdenken anregen und manchmal zum lauten Lachen. Die Hauptdarsteller Caine und Keitel bieten großes Kino, wenn sie über das Leben sinnieren, ihre Lage analysieren oder manchmal auch einfach nur schwadronieren. Es geht um Kunst und Kultur, um Sex und Liebe, um Realitätssinn und Illusion.
Die beiden Freunde hören zu, wie ihre Lebensuhr immer lauter tickt, und das Publikum hört mit: Hier bereiten sich zwei große Männer, die ihre Epoche geprägt haben, auf den unvermeidlichen Abschied vor. Anlass zur Trauer? Für die Beobachter im Kinosaal nicht unbedingt. Denn Sorrentino führt auch junge Männer und Frauen vor, die vielleicht ebenso einmal eine Epoche prägen werden.
„Youth“ ist ein hinreißend schön bebildertes Film-Essay (Kamera: Luca Bigazzi), bei dem die Stimmungen gelegentlich wichtiger sind als das gesprochene Wort. Je länger der Film dauert, umso mehr spielt sich auch der edle Soundtrack des Komponisten David Lang in den Vordergrund. Am Ende steht pure Kino-Magie. Wenn man sich denn einlassen mag auf diesen ungewöhnlichen Film: In Cannes gab es rauschenden Beifall. Und als Kontrapunkt sehr zornige Buhs.
Kinochancen: Potenzieller Arthaus-Hit. Gesamteindruck: Ein Kino-Essay über das Altern voller Eleganz und Spielkultur.
„Sicario“
Genre: Thriller. Regie: Denis Villeneuve (Kanada). Star-Faktor: Hoch (Emily Blunt, Josh Brolin, Benicio Del Toro). Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme.
Ein Sondereinsatzkommando des FBI attackiert in Arizona ein Haus, das einem Drogenclan gehört. Es fallen Schüsse, es sterben Menschen. Eine Bombe explodiert. Als sich der Rauch verzogen hat, entdecken die Cops in dem Haus 42 in Plastik verpackte Leichen – allesamt Opfer der Drogenmafia.
So ein actionknallender Filmbeginn ist höchst ungewöhnlich im Festivalbetrieb von Cannes, doch im Fall von „Sicario“ haben die Hüter des Wettbewerbs eine Ausnahme gemacht. Der neue Thriller des kanadischen Top-Regisseurs Denis Villeneuve („Prisoners“) ist einer von 19 Kandidaten für die Goldene Palme.
„Sicario“ erzählt auf beinharte Art vom gnadenlosen Kampf zwischen den Behörden und den Drogenkartellen. Nach dem Sturm auf den Drogen-Stützpunkt wird die Einsatzleiterin, Kate Macer (Emily Blunt), für eine Spezialtruppe angeheuert, in welcher ein CIA-Mann (Typ jovialer Cowboy: Josh Brolin) und ein verschlossener Kolumbianer (Typ Einzelgänger: Benicio Del Toro) das Sagen haben. Das Ziel dieser Einheit ist auf legalem Weg nicht zu erreichen. Es geht darum, in Mexiko den Boss eines Drogenclans auszuschalten – sprich: zu töten.
Regisseur Villeneuve baut in langen Szenen immense Spannung auf. Eine wilde Auto-Hetzjagd über die Grenze nach Mexiko, wo ein wichtiger Zeuge abgeholt werden soll, ist ebenso nervenzerfetzend gefilmt wie eine Sequenz in einem geheimen Tunnel, durch den das Kartell seine heiße Ware in die USA schafft.
Doch „Sicario“ bietet nicht nur Spannungskino. Der Film beschäftigt sich auch mit der Sinnhaftigkeit des amerikanischen „War on Drugs“. Die Bestialität der Drogenkartelle wird drastisch ausgestellt. Doch rechtfertigt das die Praxis der Gesetzeshüter, bei der Verfolgung der Gangster selbst alle Gesetze zu brechen? Die toughe Agentin Kate, von Emily Blunt furios gespielt, zerbricht fast an diesem Dilemma.
„Sicario“ ist ein wüster und zugleich analytischer Thriller, der an der mit Zäunen markierten Trennungslinie zwischen dem Norden und dem Süden Amerikas spielt. Vom US-Fremdenverkehrsamt wurde der Film gewiss nicht gesponsert. Von dessen mexikanischem Pendant auch nicht.
Kino-Chancen: Gut. Gesamteindruck: Raues, nachdenkliches Action-Kino mit tollem Ensemble.