Festival Cannes

Thriller-Spannung und schwere Kost

16.05.2014
von  Gunther Baumann
„The Captive“: Ryan Reynolds (li.) und Regisseur Atom Egoyan in Cannes © Katharina Sartena
Das 67. Filmfest Cannes erlebt einen irgendwie zähen Beginn.  Nach dem Red-Carpet-Blitzgewitter rund um Nicole Kidman bei der Eröffnung gab’s erst mal viel schwermütige und schwerblütige Filmkunst.  Der Brite Mike Leigh etwa lieferte mit „Mr. Turner“ ein grummeliges Porträt des berühmten Landschaftsmalers William Turner ab. Das Liebesdrama „Amour fou“ der Österreicherin Jessica Hausner erwies sich als knochentrockene Etüde. Hochspannung herrscht allerdings im Thriller „The Captive“, in dem Atom Egoyan einen Entführungsfall schildert, der an Natascha Kampusch erinnert. Und der afrikanische Beitrag „Timbuktu“  ist eine stille, aber vehemente Anklage gegen den Islamismus. Hier ein Rundgang durch das Startprogramm von Cannes.
„The Captive“: Ryan Reynolds und Mireille Enos als unglückliches Elternpaar © Festival de Cannes

„The Captive“

Genre: Thriller. Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme. Regie: Atom Egoyan (Kanada). Star-Faktor: hoch (Ryan Reynolds und Rosario Dawson spielen die Hauptrollen).
Ein Vater (Ryan Reynolds) bringt seine neunjährige Tochter vom Eislauf-Training heim und hält unterwegs noch rasch bei einer Bäckerei. Als er eine Minute später zum Auto zurückkommt, ist das Mädchen spurlos verschwunden.  Doch acht Jahre später bekommt die Mutter (Mireille Enos) irritierende Zeichen, das Mädchen könnte noch leben.
Die Kommissarin Nicole Dunlop (Rosario Dawson) macht den Fall noch einmal auf. Und in der Tat: Die kleine Cass, mittlerweile ein Teenager, lebt in einem Verlies in einer luxuriösen Villa. Von ihrem Entführer wurde sie vermutlich missbraucht, aber sie hat sich irgendwie mit ihm arrangiert.
Die Story vom „The Captive“ hat starke Parallelen zum Fall Kampusch – auf Upper-Class- und High-Tech-Niveau, sozusagen. Denn der Entführer und seine Kumpane stammen aus der Spitze der Gesellschaft, und der Gangster hatte eine perfide Idee. Er installierte ein System versteckter Kameras, deren Bilder es der kleinen Cass erlauben, ihrer Mutter Tag für Tag bei der Arbeit zuzusehen. Die Emotionen, die das in dem Mädchen auslöst, nutzt der Entführer zu einer besonders perfiden Aktion aus…
„The Captive“ ist ein brillanter, mitunter etwas schwülstiger Thriller,  dessen größte Bedrohlichkeit  in einem Detail liegt: „Die Schurken sind hier keine Männer mit Schnurrbart, die heimlich an einer Ecke stehen“, sagte Rosario Dawson in Cannes. „Die Entführer sehen aus wie du und ich – sie könnten direkt neben uns sitzen. Das ist der wahre Horror.“
Erfolgs-Chancen im Kino: Hoch. Gesamteindruck:  Gelungenes Spannungskino mit Tiefgang.
 
„Timbuktu“: Eine beinharte Attacke gegen islamistischen Terror © Festival de Cannes

„Timbuktu“

Genre: Polit-Drama. Cannes-Premiere: Im Wettbewerb. Regie: Abderrahmane Sissako  (Mauretanien). Star-Faktor: null.
„Timbuktu“ ist in doppelter Hinsicht ein außergewöhnlicher Film. Das Drama ist die wohl schärfste Attacke gegen den Wahn islamistischer Fundis, die bisher auf die Leinwand kam. Doch es war möglich, diesen beinharten Film in Arabien zu drehen: In der Islamischen Republik Mauretanien.
Der westafrikanische Wüstenstaat liefert hier die Kulisse für die Stadt Timbuktu in Mali, die 2012 in die Hände einer islamistischen Junta geriet. Ausgangspunkt für den Film war, so Regisseur Sissako, die Nachricht von der Steinigung eines Elternpaares, das getötet wurde, weil es ohne Trauschein zusammenlebte.  „Timbuktu“ zeigt diese Szene; kurz, aber in aller Grausamkeit, und der Film zeigt noch etliche Grausamkeiten der Machthaber mehr. Menschen werden im Namen Gottes getötet, weil sie musiziert haben. Weil sie Feste feierten. Oder weil sie aus anderen, absurden, Gründen die Aufmerksamkeit der Gotteskrieger weckten, die mit Jeeps und Gewehren durch die menschenleere Stadt patroullieren.
„Timbuktu“ beeindruckt nicht nur mit seiner starken politischen Message, sondern auch mit streckenweise betörenden Bildern, die den Gegensatz zwischen der märchenhaften Wüstenlandschaft und dem albtraumhaften Regime krass illustrieren. Es wäre keine Überraschung, sollte das Drama bei der Palmen-Verleihung am 24. Mai mit einem Preis bedacht werden.
Erfolgs-Chancen im Kino: „Timbuktu“ könnte im Arthaus-Bereich reüssieren. Gesamteindruck:  Ein stilles, aber beinhartes Polit-Drama voller Kraft und filmischer Eleganz.
 
„Mr. Turner“: Timothy Spall als Maler William Turner © Festival de Cannes

„Mr. Turner“

Genre: Biografie. Cannes-Premiere: Im Wettbewerb. Regie: Mike Leigh (Großbritannien). Star-Faktor: mittel (Hauptdarsteller Timothy Spall ist regelmäßiger Gast in Blockbuster-Hits, etwa als Mr. Pettigrew in den „Harry Potter“-Filmen).
Der britische Maler William Turner (1775 – 1851) zählte mit seinen Landschaftsbildern zu den größten Künstlern seiner Epoche. Regisseur Mike Leigh, sonst für Sozialdramen wie „Secrets & Lies“ (Goldene Palme 1996) bekannt, hat Turner nun eine Filmbiografie gewidmet. Erster Eindruck: Er illustriert sehr schön den Unterschied zwischen Kunst und Künstler. Denn so romantisch und bezaubernd die Werke Turners sein mögen – der Maler kommt hier als grummeliger, grunzender und grollender Zeitgenosse über die Leinwand, der seine schlechte Laune trägt wie eine zweite Haut.
Timothy Spall leistet Großes in der Verkörperung dieses Malerfürsten, der privat zu kleinen Geilheits-Anwandlungen und zum Versteckspiel neigte. Der Film endet mit Turners Tod,  und er thematisiert auch die Lebensbilanz eines großen Kreativen, der sich mit dem Gedanken anfreunden muss, Abschied zu nehmen von der Welt, in der er so viel Einfluss genoss.
Allerdings hat „Mr. Turner“ auch ein Problem: Der Film ist ähnlich grummelig, grunzend und grollend wie seine Titelfigur. Das führt dazu, dass die 149 Minuten Spielzeit nur sehr langsam dahintropfen.  Filmische Leichtigkeit sucht man bei diesem Werk vergebens.
Erfolgs-Chancen im Kino: Mike Leigh hat im Arthaus-Sektor eine verschworene Anhängerschaft, die er wohl auch mit diesem Film erreichen wird – mehr aber eher nicht. Gesamteindruck:  Ein hochseriöses Künstlerporträt mit vielen Längen.
 
„Amour fou“: Birte Schnöink (Henriette) und Christian Friedel (Heinrich) © Festival de Cannes

„Amour Fou“

Genre: Liebes-Drama. Cannes-Premiere: In der Reihe „Un Certain Regard“. Regie: Jessica Hausner  (Österreich). Star-Faktor: gering (mit Birte Schnöink, Christian Friedel u. a.).
Jessica Hausner ließ sich nach ihrem brillanten Glaubensdrama „Lourdes“ vier Jahre Zeit für ihren nächsten Spielfilm. Für „Amour fou“ suchte sie sich eine wahre Begebenheit aus. Den Tod des Dramatikers Heinrich von Kleist, der 1811 in den Freitod ging, nachdem er zuvor seine Gefährtin Henriette erschossen hatte.
Heinrich von Kleist schenkte dem Theater zwar Klassiker wie „Der zerbroch’ne Krug“ oder „Das Käthchen von Heilbronn“, doch privat erkannte er früh, „dass mir auf Erden nicht zu helfen war“. Der Film zeigt den 33-Jährigen in seinem letzten Lebensjahr – auf der Suche nach einer Partnerin für den Freitod.  Eine angehimmelte Marie gibt ihm einen Korb, doch bei der Kaufmannsgattin Henriette Vogel, bei der Krebs diagnostiziert wurde, findet er Gehör. Gemeinsam unternehmen die beiden eine Landpartie, wo sie sich mittels Schusswaffe vom Leben verabschieden.
„Amour Fou“ handelt also in der Tat von einer extremen Form  von Zuneigung und wallenden Gefühlen. In Jessica Hausners Verfilmung ist davon allerdings – und wohl mit Absicht – exakt überhaupt nichts übrig geblieben. Die Regisseurin stellt ihre Figuren in karg möblierte, kulissenhafte Räume, und sie lässt alle Dialoge so monoton und spannungslos sprechen, als ginge es um einen Vortrag aus einem Adressbuch.
Das ergibt einen sehr seltsamen, spröden und abweisenden Film, der obendrein noch einen gewissen Quäl-Faktor aufweist, wenn unbegabt und mit Klavierbegleitung die immer gleichen Lieder vorgetragen werden. Das Rätsel des Lebensüberdrusses von Heinrich von Kleist löst „Amour fou“ nicht.
Erfolgs-Chancen im Kino: gering. Gesamteindruck: Eine Film-Etüde, die wenig Effekt erzielt und deren Absichten im Dunkeln bleiben.