„Mommy“
Genre: Familiendrama. Cannes-Premiere: Im Wettbewerb um die Goldene Palme. Regie: Xavier Dolan (Kanada). Star-Faktor: niedrig (die franko-kanadischen DarstellerInnen Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon und Suzanne Clement spielen grandios, sind bei uns aber kaum bekannt).
„Die Mutter ist die zentrale Figur im Film, aber ,Mommy‘ hat nichts mit meiner Mutter oder mit meinem Leben zu tun“, erklärte Xavier Dolan in Cannes. Gut so. Sonst müssten wir uns den jungen Dolan als vollneurotischen Teenager mit schwerem ADHS-Syndrom vorstellen. Als Wüterich, der keine Sekunde still sitzen kann und jederzeit zu schwersten Ausbrüchen verbaler wie körperlicher Gewalt neigt.
Solch ein Exemplar, den 15-jährigen Steve (Antoine-Olivier-Pilon), bekommt in „Mommy“ die attraktive Diane (Anne Dorval) zurück ins Haus geschickt. Der Teenager hatte in einer Wut-Anwallung einen Brand entfacht, bei dem ein Schulkollege schwer verletzt wurde. Jetzt will ihn das Internat nicht mehr haben.
Steve schreit, brüllt, krakeelt, schlägt zu. In kurzen ruhigen Augenblicken fällt er seiner Mutter um den Hals und versichert sie seiner ewigen Liebe. Gleich danach kann alles schon wieder anders sein.
Zum Glück ist Diane, die Mommy, auch nicht gerade ein stilles Wasser, sondern eine exaltierte Vorstadt-Schönheit mit dem Temperament eines Vulkans. Aber trotz tiefer Zuneigung ist sie überfordert mit dem Sohnemann. Der Grundton im Hause: Pure Hysterie.
Nur Kyla (Suzanne Clement), die Nachbarin, bringt gelegentlich einen Hauch von Ruhe in die Bude. Kyla ist eine Lehrerin mit einem ganz eigenen Problem. Sie stottert. Aber Steve und Diane tut sie gut – und umgekehrt gilt das auch: Bald bringt Kyla gelegentlich einen ganzen Satz unfallfrei über die Lippen. Daheim, im Gespräch mit dem Ehemann, will ihr das nicht gelingen.
„Mommy“ ist im Grunde ein familiärer Horrorfilm mit eingestreuten komischen Momenten. Denn wenn der stets erlebnisorientierte Steve seine Erzeugerin mal wieder in den Wahnsinn treibt, kann man sich im Kinosaal oft nur mit Lachen helfen.
Der fünfte Spielfilm des erst 25-jährigen Xavier Dolan („Laurence Anyways“) fällt auch formal aus dem Rahmen. Besser gesagt: Er engt den Rahmen ein. Statt im gewohnten Breitformat bekommt man die (akustisch mit viel lautem Rock angeheizte) Geschichte in fast quadratischen Bildern zu sehen. „Mein Kameramann wollte schon immer einen Film in diesem Stil drehen“, sagte Dolan in Cannes. „Wir stecken die Zuschauer in eine Art Gefängnis. Sie blicken den Figuren direkt ins Auge.“
In einem Gefängnis stecken auch die Protagonisten auf der Leinwand. Steve droht wegen des Feuer-Unfalls ein Strafverfahren und wegen seines ADHS-Syndroms die Einweisung in die Psychiatrie. Mommy droht der Zusammenbruch im Zusammenleben mit dem unzähmbaren Sohn. Kyla droht der ewige Kerker des Stotterns und des Daseins in einer leblosen Ehe.
Gar keine sonnigen Aussichten also in diesem rasanten, gewaltigen und gewalttätigen Drama? Doch, meint der Regisseur: „Diane und Steve sind nicht inkompatibel, sondern fast schon zu kompatibel füreinander. Ihre Liebe ist sehr groß. Es gibt Hoffnung für sie – auch wenn es scheint, als würden sie den Weg in den Abgrund beschreiten.“
Einen Kino-Starttermin gibt es für „Mommy“ noch nicht. Doch man kann sicher davon ausgehen, dass dieses wilde, junge und formal eigenwillige Drama bald anlaufen wird. Der frankokanadische Film (in Cannes wegen des rauen Dialekts nicht nur mit englischen, sondern auch mit französischen Untertiteln gezeigt!) hat das Zeug zum großen Arthaus-Hit.
Erfolgs-Chancen im Kino: sehr hoch. Gesamteindruck: Starkes, rasantes Drama eines jungen Filmemachers, der die Konkurrenz in Cannes alt aussehen lässt.