Berlinale 2019

Vier Frauen aus Österreich und ein Film über Kontrolle und Kontrollverlust

10.02.2019
von  Gunther Baumann
„Der Boden unter den Füßen“: Mavie Hörbiger, Pia Hierzegger, Marie Kreutzer & Valerie Pachner © Katharina Sartena
Berlinale 2019: Starker Auftritt für ein Damen-Quartett aus Österreich. Regisseurin Marie Kreutzer kam am 9. Februar mit den Darstellerinnen Valerie Pachner, Pia Hierzegger und Mavie Hörbiger zur Weltpremiere ihres Films „Der Boden unter den Füßen“ in den Berlinale-Palast. Das Drama um eine junge Karrieristin und ihre psychisch labile Schwester hat als einer von 17 Kandidaten im Wettbewerb Chancen auf den Goldenen Bären – und wurde vom Premierenpublikum gefeiert.
Der Boden unter den Füßen
Genre: Psychodrama
Regie: Marie Kreutzer (Österreich)
Stars: Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger
Berlinale-Premiere: im Wettbewerb um den Goldenen Bären

„Der Boden unter den Füßen“ ist ein fesselndes Drama über eine beruflich sehr erfolgreiche Frau (Valerie Pachner), deren Lebensgrundlage ins Wanken gerät, als ihre labile Schwester (Pia Hierzegger) nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingeliefert wird.
Regisseurin Marie Kreutzer lässt das Spiel in der Welt der Unternehmensberater ablaufen. Das ist eine fast schon boshafte Wahl, gibt es in der Wirtschaft doch kaum eine verhasstere Branche als jene der smarten Konsulenten, die mit einem Federstrich ganze Belegschaften in die Arbeitslosigkeit schicken.

Kein Blick für die Verlierer der Gesellschaft: Valerie Pachner als Lola © Novotnyfilm

Die Wienerin Lola (Valerie Pachner) gehört zu dieser Gilde. Äußerlich bildschön, fuhrwerkt sie wie ein eiskalter Engel durch die Unternehmensstrukturen ihrer Auftraggeber. Empathie für entlassene Werktätige kennt sie nicht – außer, ihre eigene Karriere gerät in Gefahr. Dann zeigt sie Mitleid. Und zwar mit sich selbst. 
Zunächst scheint freilich alles in Ordnung. Die Arbeit ist hart, die Bezahlung hoch und in der kargen Freizeit schmiegt sich Lola an ihre Chefin und Geliebte Elise (Mavie Hörbiger), die sich freilich als noch eiskalterer Engel entpuppt als Lola selbst.
In dieser Welt dreht sich alles um Macht und Kontrolle, doch dann verschiebt ein Anruf aus einem Krankenhaus alle Prioritäten. Die psychisch kranke Conny (Pia Hierzegger), Lolas ältere Schwester, wurde nach einer Überdosis Tabletten in letzter Sekunde vor dem Tod gerettet.
Für Lola bedeutet das Stress und Verstellung, Hilfsbereitschaft und Unsicherheit. Ihren Hochglanz-Kollegen mag sie nichts von der labilen Schwester erzählen. Also jettet sie heimlich zwischen ihrem Dienstort  Rostock und Wien hin und her, um Conny beizustehen.Ist sie zurück am Arbeitsplatz, wird sie mit ständigen Anrufen der Kranken bombardiert.
Das Psychodrama scheint sich nun für einen Moment zum Mystery-Drama zu entwickeln, als Lola erkennt, dass diese Telefonate nur in ihrer Einbildung existieren. Doch Autorin/Regisseurin Marie Kreutzer hat keine übersinnlichen Erklärungen parat. Die Phantomanrufe sind ein weiteres Indiz dafür, dass es der Protagonistin ganz und gar den Boden unter den Füßen weggezogen hat.
Der Film erzählt eindringlich über den schmalen Grat zwischen glitzernden Fassaden und  dunklen menschlichen Abgründen; zwischen Macht und Ohnmacht, Kontrolle und Kontrollverlust. Zudem demaskiert er die Gilde der Unternehmensberater als eitle Selbstdarsteller, die nicht nur durch Entlassungspläne am Unglück anderer Leute arbeiten, sondern durch 100-Stunden-Arbeitswochen und unstillbare Gier auch am eigenen Unwohlsein.
So ist „Der Boden unter den Füßen“ ein eminent wuchtiges und intensives Kino-Drama geworden, das obendrein vom famosen Spiel seiner drei Protagonistinnen profitiert. Valerie Pachner gibt Lola zahllose Facetten von schneidender Kälte über Angst und Unsicherheit bis zu völliger Verzweiflung. Pia Hierzegger porträtiert Conny als gepeinigte Frau, die für ihre Seelenqual viel Mitgefühl verdient, allerdings in ihrer Paranoia und ihrem Verfolgungswahn auch massiv nerven kann. Und Mavie Hörbiger als Elise ist der Prototyp einer Karrieristin, die selbst in Momenten der Zärtlichkeit noch berechnend wirkt.

Kinostart: 22. März 2019
Publikums-Chancen: Potenzieller Arthaus-Hit
Gesamteindruck: Ein Seelendrama von intensiver Wirkungskraft; hervorragend gespielt