Berlinale

Goldener Bär: Presse & Publikum setzen auf Richard Linklaters „Boyhood“

14.02.2014
von  Gunther Baumann
„Boyhood“: Patricia Arquette mit Film-Kindern Samantha (Lorelei Linklater) & Mason (Ellar Coltrane) © Berlinale
Endspurt im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Am Samstagabend werden bei der Berlinale die Preise vergeben. Journalisten und Publikum haben einen klaren Favoriten: Richard Linklaters Kindheits-Saga „Boyhood“ riss bei der Donnerstag-Premiere alle von den Sitzen. Auch Österreichs Beitrag „Macondo“, der am Freitag als drittletzter Film ins Rennen ging, hat Außenseiter-Chancen auf einen Preis. Allerdings: Bei den bunt zusammengewürfelten Festival-Jurys weiß man nie, wie sie entscheiden.  Zu den Juroren zählen die ProduzentInnen James Schamus („Brokeback Mountain“) und Barbara Broccoli („Bond“), Jung-Star Greta Gerwig („Frances Ha“) sowie Österreichs zweifacher Oscar-Gewinner Christoph Waltz.
Linklater. Eine ganz und gar unalltägliche Story über das Alltagsleben: Das ist „Boyhood“, der Film, mit dem Regisseur Richard Linklater („Before Midnight“) das Berlinale-Publikum zu Beifallsstürmen verleitete. „Boyhood“ begleitet einen Jungen namens Mason (Ellar Coltrane)  durch seine Kindheit und Jugend vom sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr.

Linklater kam bei seinem Familienfilm zwar mit knapp 40 Drehtagen aus – die jedoch verteilten sich auf zwölf Jahre. Mason/Ellar und seine Mitspieler (voran Patricia Arquette und Ethan Hawke als getrennt lebende Eltern sowie Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs, als Masons Schwester) wuchsen und/oder alterten mit ihren Rollen mit.

„Boyhood“: Richard Linklater, Lorelei Linklater, Ellar Coltrane, Patricia Arquette © Starpix / A. Tuma / K. Sartena

Das Resultat ist ein Film über den ganz normalen Wahnsinn,  der sich in den Patchwork-Familien unserer Zeit so abspielt. Die Kids sind anfangs entzückend mit schwerem Talent zur Nervensägerei. Später werden sie mit den gleichen Ereignissen konfrontiert wie andere Menschen auch: Schulprobleme, erste zarte Liebesbande, Prüfungsängste, College-Wahl. Patricia Arquette (zuletzt viel zu selten auf der Kinoleinwand zu sehen)  spielt die Mutter als resolute Mamma, der die Aufsicht über den Nachwuchs leichter von der Hand geht als die Partnerwahl, bei der sie regelmäßig patzt. Ethan Hawke gibt anfangs den charmanten Luftikus; später lässt er sich von einer Frau aus frommer Familie zum Spießerdasein einkochen.
 
Und im Mittelpunkt dieses Alltags-Epos, das in jedem Zuschauer persönliche Assoziationen weckt, steht stets Mason, den man – wie alle Figuren – immer lieber gewinnt. Der Film gipfelt in einer an Banalität und zugleich Tiefsinn kaum zu toppenden Erkenntnis über die Zeit. Die mag zwar vergehen, aber: „Es ist immer jetzt“, verkündet Mason im letzten Satz des 164 Minuten langen Films.     
 
Richard Linklater erklärte, er habe dieses Finale schon vor dem Drehstart 2002 geschrieben: „Ich hatte die komplette Architektur des Films im Kopf“. Vor den jährlichen Drehtagen ging er dann das Skript durch, um auch auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. So kommen auch die Proteste gegen George W. Bushs Irak-Krieg und gegen die Datenkrake NSA in „Boyhood“ vor.

Seinen Darstellern hat Linklater die Aufnahmen über all die Jahre nie gezeigt. Sie bekamen erst kürzlich den kompletten Film zu sehen. „Man merkt, wie schnell das Leben verstreicht“, kommentierte Patricia Arquette in Berlin.
 
Bei den Jugendlichen löste der Rückblick auf zwei Drittel ihres Lebens verständlicherweise gemischte Reaktionen aus. „Bei einigen Szenen war’s für mich eine Qual, zuzuschauen“, bekannte Lorelei Linklater. „Vor vielen Jahren fragte ich meinen Vater, ob man meine Filmfigur nicht sterben lassen könnte.“ Mason-Darsteller Ellar Coltrane: „Ich verliebte mich erst mit zwölf oder 13 Jahren in das Projekt. Da erkannte ich, was für ein Glück ich habe, zu dieser unglaublichen Familie dazuzugehören.“

Mit wachen Augen in einer neuen Welt : Ramasan (Ramasan Minkailov) in „Macondo“ © Berlinale

Österreich. Auch Österreichs Beitrag im Berlinale-Wettbewerb erzählt eine Kindheits-Geschichte. Die iranisch-stämmige Regisseurin Sudabeh Mortezai folgt in ihrem Erstlings-Spielfilm „Macondo“ den Spuren des elfjährigen Ramasan, der mit der Mutter und zwei Schwestern vor dem Bürgerkrieg in Tschetschenien flüchtete. Die Familie landete schließlich in Macondo, der Flüchtlings-Siedlung in Wien-Simmering (in den Siebziger Jahren wurde der Ort von Einwanderern aus Lateinamerika nach dem Schauplatz von Gabriel Garcia Marquez‘ Kultroman „100 Jahre Einsamkeit“ benannt).
 
Ramasan ist ein Bub, der bereits perfekt Deutsch spricht, seinen Platz in der neuen und noch fremden Heimat aber erst finden muss. Der Film schildert, wie Ramasan seine Route zwischen der islamischen und der westlichen Welt auslotet. „Macondo“ ist ein sehr einfühlsames, kluges und sensibles Kammerspiel, gedreht in halbdokumentarischem Stil. Damit passt die Produktion prächtig ins Beuteschema der Berlinale, wo man solche kleinen, aber hochengagierten Sozialdramen schon immer gepflegt hat.