DIE STORY: Die dänische Oscar-Gewinnerin Susanne Bier drehte mit „Zweite Chance“ eine Mischung aus Thriller und Drama, die mit ihrem extrem konstruierten Plot an eine Versuchsanordnung aus dem Psycholabor erinnert.
Zwei Paare mit ganz kleinen Babys stehen im Mittelpunkt des Spiels. Hier der Kommissar Andreas (Nikolaj Coster-Waldau) mit seiner schönen Frau Anne (Maria Bonnevie) und dem winzigen Sprössling Alexander. Dort der Schläger und Junkie Tristan (Nikolaj Lie Kaas) mit seiner Drogenbraut Sanne (May Anderson) und dem winzigen Sofus, der in den eigenen Exkrementen liegt.
Als Andreas einen Polizei-Einsatz bei den Junkies durchführt, will er den Jungen in die Obhut des Jugendamts geben. Doch weil Sofus keinerlei Spuren von Misshandlung zeigt, kommt er bald wieder zu den Eltern zurück.
Kurz darauf stirbt eines der Babys – Alexander, der Sohn des Polizisten. Ein Fall von plötzlichem Kindstod? Alexanders labile Mutter Anne dreht durch. Und Andreas, der den Leichnam im Krankenhaus abliefern will, hat plötzlich eine wahnwitzige Idee. Er fährt zu dem Junkie-Pärchen, das im Drogenrausch weggetaucht ist, und tauscht den Leichnam seines Sohnes gegen den kleinen Sofus aus, der schon wieder völlig verdreckt in einem Eck liegt.
DIE STARS: Der Däne Nikolaj Coster-Waldau (Andreas) wurde durch die Rolle des Jaime Bannister in der TV-Serie „Game of Thrones“ weltbekannt. Maria Bonnevie, die Darstellerin von Andreas‘ Frau Anne, ist in Skandinavien sehr gut im Geschäft. Nikolaj Lie Kaas, der den Schläger Tristan spielt, ist derzeit im Kino auch auf der anderen Seite des Gesetzes zu sehen – im Thriller „Schändung“ spielt er einen Kommissar. Das Top-Model May Anderson spielt als Junkie-Braut Sanne erstmals eine Filmrolle.
Die dänische Autorin und Regisseurin Susanne Bier, 54, zählt zur Riege von Europas bedeutendsten Filmemachern. Mit dem Drama „In einer besseren Welt“ gewann sie 2011 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
DIE KRITIK: Ist es zu rechtfertigen, aus sehr moralischen Gründen etwas sehr Unmoralisches zu tun? Das ist die Grundfrage, die wie ein tonnenschweres Bleigewicht über dem Drama „Zweite Chance“ baumelt.
Der Polizist Andreas begeht im Schock über den Tod seines Sohnes eine Wahnsinns-Aktion. Seine erste Chance - jene, dem eigenen Sohn ein guter Vater zu werden - ist unwiderruflich dahin. Ist es nun eine „Zweite Chance“ - für ihn und für das Baby eines Junkie-Pärchens -, wenn er den toten Säugling gegen einen lebendigen tauscht? Oder handelt es sich schlicht um den Tatbestand einer Entführung?
Die Regisseurin Susanne Bier, eine der großen Moralistinnen des europäischen Kinos, versucht nicht, nach Argumenten zu suchen, die als Erklärung für den Babytausch ihres Protagonisten Andreas dienen könnte. Sie stellt eine Gruppe von Menschen in eine Extremsituation und führt vor, was mit ihnen passieren könnte.
Allerdings macht es die Oscar-Preisträgerin dem Publikum sehr schwer, das Drama ganz an sich heranzulassen. Für meinen Geschmack ist „Zweite Chance“ viel zu schablonenhaft und viel zu eindimensional, um wirklich zu berühren.
Die Probleme beginnen bei der Grundsituation. Andreas & Anne & Alexander, die einen tollen Designer-Bungalow am Meer bewohnen, werden wie eine Heile-Welt-Familie aus dem Hochglanzkatalog vorgestellt. Umgekehrt schmoren Tristan & Sanne & Sofus so tief in der Junkie-Hölle, wie es abstoßender kaum sein könnte. Nichts als Drogen, Gewalt, hässlicher Sex und ein Baby, das vor sich hin vegetiert.
Klischees, Klischees, wohin man schaut. Immerhin gelingt es Susanne Bier, der Story mit ein paar sehr verblüffenden Wendungen etwas Leben und auch Spannung einzuhauchen. Trotzdem bleibt diese Tragödie mit ihren schablonenhaften Figuren für mich an der Oberfläche. Die Darsteller mühen sich allesamt redlich, ihren Rollen viele Facetten zu geben. Doch angesichts der holzschnittartigen Konstruktion der Charaktere im Drehbuch ist das verlorene Liebesmüh.
„Zweite Chance“ ist, trotz aller donnernden Schicksalsschläge, ein Film, der kaum Raum für Diskussionen lässt. Ja, es stimmt, dass Menschen in außergewöhnlichen Situationen zu sehr außergewöhnlichen Handlungen fähig sind. Ja, es stimmt, dass es für ein Baby eine Chance sein könnte, bei liebenden und wohlhabenden Pflege-Eltern aufzuwachsen statt im Junkie-Müll. Nein, das ist aber noch lange kein Grund, den Junkies ihren Sprössling zu entführen. Susanne Bier rennt mit all ihren Thesen offene Türen ein. Ein packender Film entsteht daraus nicht.
IDEAL FÜR: Liebhaber schwerer Schicksalsdramen.