DIE STORY: Die Doku „Über die Jahre“ berichtet vom Untergang einer Textilfabrik im nördlichen Waldviertel – und von den Folgen, die der Jobverlust für die Belegschaft hat. Regisseur Nikolaus Geyrhalter nahm sich zehn Jahre lang (2004 bis 2014) Zeit, um den Niedergang der Anderl-Fabrik nahe Schrems und die Schicksale der Mitarbeiter aufzuzeichnen.
Aus diesem Material fertigte er einen mit 188 Minuten sehr langen, aber stets berührenden Film, in dem es nur am Rande um die Industrie, hauptsächlich aber um die Menschen geht: Ihre Ängste, ihre Niederlagen, ihre Zuversicht und ihre Einrichtung in ein neues Leben.
DIE STARS: Der Wiener Nikolaus Geyrhalter, 42, erwarb sich mit Produktionen wie „Das Jahr nach Dayton“, „Pripyat“ oder „Unser täglich Brot“ den Rang eines der führenden Dokumentarfilmer Österreichs. Bei der Diagonale 2015 in Graz wurde er mit einer großen Werkschau geehrt. Dort hatte „Über die Jahre“, im Februar zur Berlinale eingeladen, auch Österreich-Premiere. Die Folge: Der Film erhielt den
Großen Diagonale-Preis in der Kategorie Dokumentation.
DIE KRITIK: Ein nachtdunkler früher Morgen, eine Stechuhr, eine grotesk altmodische Textilfabrik. Mit diesen Bildern lässt Nikolaus Geyrhalter seinen Film „Über die Jahre“ beginnen. Der Regisseur nimmt sich viel Zeit, um die Zuschauer auf den Schauplatz und seine Menschen einzustimmen. „Über die Jahre“ ist nicht nur ein langer, sondern auch ein langsamer, poetischer Film, der sein Publikum freilich reich belohnt.
Am Anfang steht noch die Fabrik im Mittelpunkt. Die Maschinen, die dort schnaufend und hechelnd ihren Dienst versehen, scheinen den Abtransport ins Industriemuseum herbeizusehnen. Ein Blick genügt: So eine Fabrik hat in unseren modernen Zeiten keine Chance mehr. Nur die Arbeiter klammern sich, es ist das Jahr 2004, noch an die Hoffnung, sie könnten der Arbeitslosigkeit entgehen.
Dann, ein paar Jahre später, ist die Anderl-Fabrik wirklich pleite, und der Film wendet sich immer stärker den Menschen zu. Man begegnet der Frau des Fabriksdirektors, die es schwer verwinden kann, plötzlich mit „einem Konkursler“ verheiratet zu sein (eine Einschätzung, die wiederum der Direktor nicht akzeptieren mag). Vor allem aber geht es um die ArbeiterInnen. Wie sollen sie neue Jobs finden in einer Gegend, die von der Grenzregion zum ökonomischen Niemandsland mutierte? Wie sollen sie ihr Leben neu auf die Beine stellen?
Geyrhalter konzentriert sich auf einige wenige Protagonisten, die er während des ganzen Drehs begleitet. Da ist die resolute, praktisch veranlagte Bürodame, die zu Beginn ihre Listen noch mit dem Kugelschreiber ausfüllt, zehn Jahre später jedoch, im neuen Job, spielerisch mit dem Computer umgeht. Da ist der unvermittelbare Arbeiter, der jedes Jahr an Verbitterung und an Gewicht zuzunehmen scheint. Der stille Ex-Buchhalter, der nun in der Arbeitslosigkeit seine 860 CDs („Schlager und deutsche Musik“) akkurat katalogisiert. Oder die alternde Frau vom Lande, die lieber ihre Enkelkinder ins Haus nimmt, statt eine neue Arbeitsstelle zu suchen.
Diese Menschen aus dem Waldviertel wachsen einem rasch ans Herz mit ihrem beharrlichen Streben, sich nicht aus der Bahn kegeln zu lassen. Gegen Ende des Films stellt der Regisseur allen die Frage, ob sie die Zeit seit der Fabriks-Pleite als positiv oder negativ erlebt haben. Die meisten sprechen von letztlich guten Jahren – auch wenn sie harte Schicksalsschläge zu verkraften hatten.
Nikolaus Geyrhalter hat einige durchaus auffällige Charaktere von rauer Waldviertler Prägung vor der Kamera versammelt. Doch anders etwa als Ulrich Seidl bei „Im Keller“ sucht er keine Abgründe in den Protagonisten. Ganz im Gegenteil. Er steht ihnen mit großer Sympathie zur Seite und begleitet sie auf ihrem Weg vom Jobverlust zurück ins ganz normale Leben. Die Leute aus der Anderl-Fabrik haben ein großes Herz – der Film hat es auch. So ist „Über die Jahre“ eine melancholische Reportage über die Härte der Arbeitswelt und zugleich ein humanistisches Manifest.
IDEAL FÜR: Freunde von Dokumentarfilmen, die hier ein sehr spezielles Österreich-Bild präsentiert bekommen.