DIE STORY: Das Drama „Still Alice“ schildert die Tragödie der Sprachwissenschaftlerin Alice Howland (Julianne Moore), die es irritiert, dass ihr gelegentlich ein paar Worte fehlen – und die dann mit einer Alzheimer-Diagnose konfrontiert wird. Sie leidet an einer vererbten Form des Gedächtnisverlusts, der bei ihr schon im frühen Alter von 50 Jahren auftritt.
Der Film folgt der Frau auf den Stufen ins Vergessen – ein Prozess, der von der Kranken als Horrortrip und auch als Demütigung wahrgenommen wird: „Es fühlt sich an, als ob mein verdammtes Gehirn stirbt!“ Die Familie – allen voran ihr Mann John (Alec Baldwin) und ihre jüngste Tochter Lydia (Kristen Stewart) - leisten vollen Einsatz, um Alice beizustehen.
DIE STARS: Julianne Moore war 2014 definitiv die Schauspielerin des Jahres – sie hätte den Oscar schon für ihr Porträt einer exaltierten Filmdiva in David Cronenbergs „Maps To The Stars“ verdient gehabt. Doch nominiert und (verdientermaßen) ausgezeichnet wurde sie für das konventionellere Drama „Still Alice“.
An Julianne Moores Seite zeigt „Twilight“-Star Kristen Stewart kurz nach ihrer Glanzrolle im Arthaus-Hit „Die Wolken von Sils Maria“ erneut, welch herausragend begabte Schauspielerin sie ist. Alec Baldwin spielt den mitleidenden Ehemann mit äußerster Zurückhaltung und trifft damit in jeder Sekunde den richtigen Ton.
Für die Autoren, Regisseure und Lebenspartner Richard Glatzer & Wash Westmoreland ist „Still Alice“ der vierte gemeinsame Film. Die beiden erklärten, das Alzheimer-Thema habe sie auch deshalb interessiert, weil Richard Glatzer selbst an einer unheilbaren Krankheit litt, an ALS. Zur Oscar-Gala im Februar konnten die beiden wegen Glatzers Erkrankung nicht kommen. Richard Glatzer ist am 10. März 2015 im Alter von 63 Jahren an den Folgen seines ALS-Leidens verstorben.
DIE KRITIK: „Word Stock“. Wortschatz also. Das ist das erste Wort, das der Linguistik-Professorin Alice Howland (Julianne Moore) nicht mehr einfällt. Da steht die Wissenschaftlerin aus New York noch auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.
Den ersten kleinen Blackout schiebt sie zur Seite („ich hätte den Champagner nicht trinken sollen“). Doch wenig später verliert sie beim Joggen kurz die Orientierung. Und dann begrüßt sie zu Weihnachten die neue Freundin ihres Sohnes gleich zwei Mal.
Was ist da los? Alice erbleicht, als ihr Neurologe erstmals das A-Wort in den Mund nimmt: „Verdacht auf Alzheimer“.
Der Film beleuchtet die Krankheit und ihre Folgen aus medizinischer wie aus emotionoler Seite. Einerseits erfährt man, dass die Alzheimer-Frühform, an der Alice leidet, genetisch bedingt ist (was auch ihre Kinder zu potenziellen Opfern macht). Andererseits, und das ist der wichtige Teil des Dramas, bekommt man einen Einblick, welch grausame Realität hinter dem Wort Alzheimer steckt.
„Ich wünschte, ich hätte Krebs“, platzt es einmal aus der verzweifelten Alice heraus. „Dann würde ich mich nicht so beschämt fühlen!“ Man kann mit ihr mitfühlen. Denn Alzheimer, das bedeutet ja ausweglosen Kontrollverlust, verbunden mit größter Hilflosigkeit. Die pure Vorstellung von solch einem Schicksal löst bei vielen Gesunden große Ängste aus.
Die Filmemacher Richard Glatzer & Wash Westmoreland haben „Still Alice“ als geradliniges Dokudrama gedreht, dem jeder Hauch von Hollywood-Kitsch fremd ist.
Man schaut der Kranken zu, wie sie sich ständig selbst auf neue Anzeichen des Verfalls abtestet. Wie sie, noch voll bei geistigen Kräften, ihrem kranken Selbst eine Video-Anleitung zum Freitod aufnimmt. Wie sie in Gesprächen mit ihren Kindern versucht, deren Lebensweg von Hindernissen zu befreien.
Der sachliche, doch mitfühlende Stil des Films kommt diesen Themen entgegen. „Still Alice“ hat es nicht notwendig, auf Tränendrüsen zu drücken. „Ich bin jeden Tag dabei, die Kunst des Verlierens zu lernen“, sagt die Professorin bei einem Vortrag vor Leidensgenossen. Rührung stellt sich bei solchen Sätzen ganz von selbst ein.
Auch das hervorragende Spiel der Darsteller trägt dazu bei, die Wirkung des Films zu erhöhen. Julianne Moore spielt die (schwindende) Klugheit, die Angst, den Mut und die Verzweiflung der Titelfigur grandios und mit (meist) leisen Tönen aus. Kristen Stewart gestaltet packend eine junge Frau mit sehr rauer Schale und großem Herz, die mit ihrer Mutter zwar streitet, ihr jedoch in unzerbrechlicher Solidarität verbunden ist.
„Still Alice“ bietet – ein Nebeneffekt – eine Begegnung mit dem hochkultivierten US-Bildungsbürgertum, dessen Existenz man im grellen Schlagzeilen-Gewitter aus Amerika gern einmal übersieht. Alice und ihre Familie sprechen ein außerordentlich schönes (und daher leicht verständliches) Englisch. Weshalb wir für den Kinobesuch definitiv die Originalfassung empfehlen wollen.
IDEAL FÜR: Filmfreunde, die kitschfreie Schicksalsdramen lieben – und die Informationen über die Folgen von Alzheimer sammeln wollen.