GESAMTEINDRUCK: Das Gerichtsdrama „Murer – Anatomie eines Prozesses“ schildert den Weg zum Freispruch für den Nazi-Täter Franz Murer im Jahr 1963: Ein aufwühlender Film über das Unvermögen und den Unwillen Österreichs, sich seiner Nazi-Vergangenheit zu stellen.
DIE STORY: Der steirische Landwirt und Nazi Franz Murer (1912 – 1994) war als SS-Offizier von 1941 bis 1943 verantwortlich für das jüdische Ghetto von Vilnius, wo man ihn wegen seiner Grausamkeit den „Schlächter von Wilna“ nannte. Nach dem Krieg in der UdSSR als Kriegsverbrecher verurteilt, stand er 1963 in Graz erneut vor Gericht. „Murer“, der Film, schildert die Aussagen der Zeugen, die das Ghetto überlebt hatten. Man wird mit dem Leugnen des Angeklagten konfrontiert, mit dem Lavieren der Politiker – und mit den Geschworenen, die Franz Murer trotz aller Beweise freisprachen.
DIE STARS: Karl Fischer, dem TV-Publikum wohlvertraut als gemütlicher Sergente Vianello in den Donna-Leon-Venedig-Krimis, meistert in „Murer“ mit Bravour die Herkules-Aufgabe, den schmallippigen, starrsinnigen und ignoranten Kriegsverbrecher Franz Murer zu porträtieren.
Rund um Karl Fischer sind in dem riesigen Ensemble mit 73 Sprechrollen renommierte Darsteller wie Karl Markovics (als Simon Wiesenthal), Gerhard Liebmann (als von Skrupeln zerfressener Geschworener), Robert Reinagl (als Justizminister Christian Broda) oder Inge Maux (als Ghetto-Überlebende und Zeugin) zu sehen.
„Murer“-Regisseur Christian Frosch, der zwischen Berlin und Baden bei Wien pendelt, machte zuletzt 2015 mit der tragischen Love Story „Von jetzt an kein Zurück“ im Arthaus-Kino Furore.
DIE KRITIK: Wenn man nach „Murer – Anatomie eines Prozesses“ das Kino verlässt (im Fall des Rezensenten zornig, entsetzt und ziemlich fassungslos), dann wird einem klar, warum Österreich mehr als 40 Jahre brauchte, vom Kriegsende 1945 zur Waldheim-Debatte 1986, bis die Bürger bereit waren, in offener Diskussion die Mitschuld des Landes an der Nazi-Diktatur zu akzeptieren. Zuvor war alles zugenagelt mit einer undurchdringlichen Wand aus fehlender Einsicht, Opfer-Mythos, politischer Taktik und/oder Nazi-Gedankengut, das auch in der Republik weiterwucherte.
Die Murer-Sympathisanten zum Beispiel, die 1963 in großer Zahl den Freispruch des Nazi-Schergen bejubelten, konnten ihre Begeisterung, so schildert es der Film, kaum zurückhalten. Und sie beschenkten Franz Murer mit so viel Blumen, kann man andernorts nachlesen, dass die Blumenläden ausverkauft waren.
Christian Frosch, der Autor und Regisseur von „Murer“, entwickelt von der ersten Szene an das Bild eines muffigen, verstockten Österreich, in dem der Ungeist des Tausendjährigen Reiches noch nicht durch frische Luft vertrieben wurde.
Die Murer-Anhänger sind dem Angeklagten in Treue fest verbunden. Die Geschworenen schauen mit ihren verschlossenen Gesichtern aus, als wären sie der Phantasie des großen Manfred Deix entsprungen (der doch stets nur die Realität abbildete und zuspitzte).
In dieser dunklen, düsteren Atmosphäre begegnet man den Zeugen, den Überlebenden des Ghettos, die unerträgliche Geschichten über Franz Murer erzählen. Und die es kaum ertragen, dem Schlächter von Wilna wieder gegenüber zu stehen.
Man begegnet einem Staatsanwalt (Roland Jaeger), der seine Causa nicht übertrieben geschickt vorträgt. Gab es da am Ende diskrete Fingerzeige aus dem Justizministerium? Der Film deutet es als Möglichkeit an. Für Murers Strafverteidiger (Alexander E. Fennon) ist so ein Ankläger jedenfalls ein Geschenk. Mit zynischem Kalkül schafft er es, die Zeugen zu verwirren und ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Was man auf der Geschworenenbank offenkundig gern zur Kenntnis nimmt. Denn dort sitzen einige Murer-Sympathisanten.
Allein die Schilderung des Prozesses, die drastisch, voll Spannung und überbordendem Gefühl inszeniert ist, würde locker den ganzen Film füllen. Aber Regisseur Christian Frosch will in diesem Mammutprojekt noch mehr; er will auch die politischen Netze sichtbar machen, in deren Wirkmacht der Murer-Prozess ablief.
Das ist ehrenwert. Doch das Projekt stößt dabei an seine Grenzen. Der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, sensibel gespielt von Karl Markovics, bleibt in diesem Kontext zwangsläufig eine Randfigur. Ein wichtiger Protagonist wie Justizminister Christian Broda (Robert Reinagl) wiederum wird sehr beiläufig eingeführt; ohne dass man seine Bedeutung sofort erahnt.
Broda bescherte Österreich in der Kreisky-Ära der Siebziger Jahre die große Justizreform, von der das Land bis heute profitiert. Aber nahm er im Fall des SS-Schergen Murer aus taktischen Gründen eine zwiespältige Position ein? Die Frage bleibt letztlich offen – und wäre durchaus einen eigenen Film wert.
Egal: Trotz kleiner Einwände ist „Murer – Anatomie eines Prozesses“ ein Österreich-Zeitdokument von einer Wucht und einer Intensität, wie man das nur höchst selten im Kino erlebt. Christian Frosch hat einen großen und auch unbequemen Film gedreht, den man jedem Bürger des Landes (und allen, die an Österreich interessiert sind) nur ans Herz legen kann. Denn der Blick zurück hilft mit, die Gegenwart des Landes besser zu verstehen.
IDEAL FÜR: Österreicher und Österreich-Liebhaber, die dazu bereit sind, sich auch dem Blick auf die Schattenseiten des Landes zu stellen.