GESAMTEINDRUCK: „Deutschstunde“ ist die kompakte und fesselnde Verfilmung des berühmten Romans von Siegfried Lenz. Das Zeitgeschichte-Drama wird getragen durch das starke Spiel von Ulrich Noethen und Tobias Moretti.
DIE STORY: Der junge Häftling Siggi Jepsen (Tom Gronau) soll im Unterricht einen Aufsatz über „Die Freuden der Pflicht“ schreiben, bringt aber keine Zeile heraus. Doch als er mit Notizheften in eine Einzelzelle verbannt wird, strömen die Worte nur so aus ihm hervor. Er blickt zurück auf die Zeit vor Kriegsende. Der Film erzählt nun aus der Sicht des zehnjährigen Siggi (Levi Eisenblätter) die Geschichte seines Vaters Jens Jepsen (Ulrich Noethen) der als Polizist seine Pflicht darin sah, seinem Freund, dem Maler Max Nansen (Tobias Moretti), das Arbeiten zu verbieten. Weil dessen Werke von den Nazis als entartete Kunst eingestuft wurden.
DIE STARS: Mit Ulrich Noethen („Das Tagebuch der Anne Frank“, „Neben der Spur“) und dem Tiroler Tobias Moretti („Das finstere Tal“, „Der ewige Leben“) stehen sich in den Hauptrollen zwei der führenden Schauspieler des deutschen Sprachraums gegenüber. Auch die Frauenrollen sind mit Johanna Wokalek, Sonja Richter und Maria Dragus glänzend besetzt. Levi Eisenblätter, der den zehnjährigen Siggi spielt, beweist großes Talent.
Autor/Regisseur Christian Schwochow landete 2018 mit der Wirtschaftsthriller-Serie „Bad Banks“ einen großen TV-Erfolg.
DIE KRITIK: Der Polizist Jens Jepsen will aus seinem Sohn einen „brauchbaren Menschen“ machen. Doch „brauchbare Menschen müssen sich fügen“, schreibt er dem kleinen Siggi hinter die Ohren. Wie jeder Zehnjährige will der Junge seinen Vater als Held und Vorbild sehen. Allerdings scheint ihm der Vater in seinen Taten dazu kaum geeignet zu sein. Deshalb entscheidet er sich, ein brauchbarer Mensch zu werden, ohne sich zu fügen. Was ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringen wird. Und irgendwann auch hinter Gitter.
Hier der starre Gehorsam und die Befolgung von Regeln. Dort die ungestüme Kreativität der Kunst. Und dazwischen Reflexionen über die „Freuden der Pflicht“: Siegfried Lenz (1926 – 2014) hat mit seiner 1968 erschienenen „Deutschstunde“ einen Schlüsselroman über deutsche Befindlichkeiten während und nach dem Ende der Nazi-Diktatur geschrieben.
Dem Regisseur Christian Schwochow ist allein schon mal dazu zu gratulieren, die Essenz des 600-Seiten-Romans stimmig in einen Zwei-Stunden-Film übertragen zu haben (das Drehbuch schrieb seine Mutter Heide Schwochow). „Deutschstunde“ ist, visuell gesehen, dem Thema entsprechend ein düsterer Film geworden. Selbst dort, wo es hell ist, ist es dunkel. Strenge Figuren und enges Denken in der kargen Weite der norddeutschen Landschaft: Von der Aura erinnert das Drama manchmal an Michael Hanekes „Das weiße Band“.
Im Zentrum des Geschehens steht der Polizist Jens Jepsen, der möglicherweise kein Nazi ist, aber niemals auf die Idee käme, Vorschriften oder Befehle der Nazi-Behörden zu hinterfragen. Als die Anweisung kommt, dem „entarteten“ Maler Max Nansen ein Berufsverbot zu verkünden, drückt er dem Künstler eilig die Nachricht in die Hand. Und der kleine Siggi Jepsen muss mitanschauen, wie eine Welt zerbricht. Denn Jepsen und Nansen waren seit Ewigkeiten Freunde. Der Maler ist Siggis Patenonkel. Er denkt übrigens gar nicht daran, die Pinsel wirklich wegzulegen. Siggi schlägt sich auf Nansens Seite – was ihm in weiterer Konsequenz Schläge seines Vaters einträgt.
Ulrich Noethen spielt den Dorfpolizisten Jepsen mit fanatischer Paragraphenhörigkeit. Ordnung und Einordnung und Pflichterfüllung sind seine Ideale, die er auch dann noch eisern verfolgt, als Fliegerangriffe der Alliierten schon den großen Umbruch ankündigen. Später, nach dem Zusammenbruch der Diktatur, wird er von seiner Uniform das Hakenkreuz entfernen und weiter dem Staat als Polizist dienen. Die Frage, ob er Mitschuld trägt an den Ereignissen der Diktatur, stellt sich ihm nicht.
Tobias Moretti legt den Maler Max Nansen offener, weicher und sinnlicher an als seinen Kontrahenten Jepsen. Er strahlt etwas freundlich Bohemienhaftes aus – ein Eindruck, der durch das harmonische Zusammenleben mit seiner Frau Ditte (Johanna Wokalek) noch verstärkt wird. Die Pflicht zur Pflichterfüllung ist ihm fremd. Kein Wunder, dass sich der zehnjährige Siggi beim Patenonkel wohler fühlt als im strengen Regime des Vaters. Der Junge beginnt damit, seine eigene, kreative Welt aufzubauen, die er so weit wie möglich vor dem Vater abschirmt.
So ist „Deutschstunde“ ein großes Drama über Pflicht und Schuld geworden, über Verantwortung und Freiheit, über verbohrtes Denken und Phantasie. Man sitzt zwei Stunden lang fasziniert in einem edlen Arthaus-Film und stellt manchmal leicht erschrocken fest, dass diese Verfilmung eines 50 Jahre alten Romans über Ereignisse, die 75 Jahre zurückliegen, auch heute noch aktuelle Anklänge hat.
IDEAL FÜR: Liebhaber souveräner Literatur-Verfilmungen.