DIE STORY: „Das unbekannte Mädchen“ ist ein knochentrockenes und sauber beobachtetes Drama der belgischen Star-Regisseure Jean-Pierre & Luc Dardenne um eine junge Ärztin namens Jenny (Adèle Haenel). Genervt von ständigen Überstunden, öffnet sie eines Abends die Tür zu ihrer Praxis nicht mehr, als es klingelt. Am nächsten Tag meldet sich die Polizei bei ihr. In der Nähe ihrer Praxis wurde die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Jenny erkennt sie wieder.
Von Schuldgefühlen geplagt fragt sich Jenny, ob sie etwas anders hätte machen können, was diese junge Frau von ihr wollte und woher sie kam. Stück für Stück findet Jenny mehr heraus und stellt bald fest, dass sie ihren Lebensplan über den Haufen werfen muss.
DIE STARS: Adèle Haenel („Die Blumen von gestern“) ist die Idealbesetzung für diese Jenny, deren Karriere genau geplant zu sein scheint. Demnächst steht der Wechsel in eine Klinik an, mit mehr Verantwortung und mehr Gehalt. Aber dann entscheidet ein Moment darüber, wie Jenny demnächst leben wird. All die Sorgen, die sie sich macht. Der Kummer über das sie um umgebende Elend: All das spiegelt sich in tausend Nuancen im Gesicht der französischen Ausnahme-Schauspielerin – eine preiswürdige Leistung!
DIE KRITIK: Die belgischen Dardenne-Brüder („Zwei Tage, eine Nacht“) bringen – und das seit Jahrzehnten – etwas Bemerkenswertes fertig. Sie drehen mehr oder minder stets denselben Film. Und nicht nur die Kritiker sind regelmäßig begeistert. In ihren sehr oft preisgekrönten Sozialdramen geht es immer um die Schattenseiten des Lebens. Mal ist es die Arbeitslosigkeit, dann ein persönlicher Verlust. Oder, so wie im Fall von „Das unbekannte Mädchen“, eine verhängnisvolle Entscheidung.
Frau stirbt, weil Ärztin ihre Praxis nicht öffnet! So könnte am Boulevard die Schlagzeile über den geschilderten Fall lauten. Und es wären wohl viele von uns entsetzt ob dieser Herzlosigkeit der Medizinerin.
Die Dardenne-Brüder lassen diese Deutung zu. Aber sie erzählen auch, wie es dazu kommen konnte: Eine Ärztin, komplett überfordert und ausgelaugt, entscheidet sich eine Stunde nach Schließung der Praxis, dieses eine Mal nicht mehr auf ein Klingeln zu reagieren. Wie hätte sie wissen können, dass ausgerechnet „Das unbekannte Mädchen“ vor der Tür ihre Hilfe dringend benötigt hätte? Wie hätte man selbst reagiert?
Bei diesem sehr ruhig erzählten Film gehen dem Zuschauer diese Fragen nicht mehr aus dem Kopf. Das liegt großenteils daran, dass die Dardennes nichts zum Ablenken bieten. Keine Musik, keine Komik. Nichts schwächt das eigentliche Drama ab. Und so geht der Film im Kopf des Zuschauers auch nach dem Film stundenlang weiter.
IDEAL FÜR: Arthaus-Kinogänger, die auch vor harter Kost nicht zurückschrecken. Dafür bekommt man die pralle Portion Realität und eine Adèle Haenel in Höchstform.