Filmfest Venedig 2019

Ein Abenteuer im All und ein Rosenkrieg

29.08.2019
von  Gunther Baumann
Hollywood-Glamour am Lido: Scarlett Johansson kam zur Premiere von „Marriage Story“ © Katharina Sartena
Erst ein entfesselter Rosenkrieg zwischen Scarlett Johansson und Adam Driver, die in der Tragikomödie „Marriage Story“ ein Paar in Scheidung spielen. Dann ein spektakuläres Weltraum-Abenteuer mit Brad Pitt, der als Astronaut in „Ad Astra“ die längste Dienstreise seiner Laufbahn antritt. Das 76. Filmfest Venedig hatte an seinem zweiten Tag, dem 29. August, große Film- und Schauspielkunst anzubieten. Beide Produktionen sind im Wettbewerb um den Goldenen Löwen am Start. Für Kinogeher gibt’s allerdings einen Wermutstropfen. Während „Ad Astra“ schon am 19. September auf der großen Leinwand anläuft, wird man „Marriage Story“ dort kaum erleben können. Der Film ist eine Netflix-Produktion.  
Allein in den Weiten des Weltalls: Brad Pitt im großen SciFi-Film „Ad Astra“ © Filmfest Venedig

Ad Astra

Genre: Science Fiction
Regie: James Gray (USA)
Stars: Brad Pitt, Tommy Lee Jones, Liv Tyler, Ruth Negga, Donald Sutherland
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen

Der Astronaut Roy McBride (Brad Pitt) wird zu Beginn von „Ad Astra“ zu einem geheimen Briefing gebeten. Dort erfährt er: Möglicherweise ist sein Vater, der legendäre Raumfahrer Clifford McBride (Tommy Lee Jones), noch am Leben. Der trat vor 27 Jahren eine Mission an, von der er nie zurückkam. Auf der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz flog er bis an die Grenzen des Sonnensystems. Jetzt  vermutet man ihn (falls er noch lebt) in der Gegend des Neptun, viereinhalb Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Roy McBride erhält den Auftrag, mit einer neuen Expedition nach seinem alten Herrn zu suchen. Der besitzt möglicherweise Zugang zu Informationen, von denen das Wohlergehen der Menschheit abhängt.
Science-Fiction-Filme schlagen gern eine von zwei Hauptrichtungen ein. Das Blockbuster-Kino zieht es zu donnernder Action, während die Arthaus-Filmkünstler gern philosophische Themen aus der All-Perspektive erörtern. „Ad Astra“ wählt einen ausgesprochen gut gelungenen Mittelweg. Die Raum-Odyssee ist spannend wie ein Abenteuerfilm, zugleich aber klug und hintergründig wie ein Essay.
Der Film beginnt mit einer spektakulären Katastrophen-Szene,  in der Astronaut Roy McBride alias Brad Pitt gerade noch mit dem Leben davonkommt. Bei einem All-Spaziergang stürzt er von einer nahen Orbit-Station erdwärts – und setzt, gebremst von einem durchlöcherten Fallschirm, unsanft, aber sicher wieder auf.
Bei seiner Expedition in Richtung Neptun muss Roy dann Zwischenstops auf dem Mond und dem Mars einlegen, die in dieser Geschichte längst vom Menschen besiedelt sind. Der Mond, erfährt man, ist eine Kampfzone, in der Armeen und Partisanen aufeinander treffen. Ein blutiges Beispiel für extraterrestrische menschliche Dummheit, das sich filmtechnisch freilich sehr aufregend bebildern lässt.
Visuell ist „Ad Astra“ ein Meisterwerk geworden. Der Film, der in einer nicht näher bestimmten nahen Zukunft spielt,  zeigt die Raumfahrt so, wie man sie sich auch in der Gegenwart vorstellen kann – mit Raketen und mit Astronauten, die in Cockpits nach Art von Flugzeugen sitzen. Von dort schleicht sich der Film dann zu jenen Dingen, die heute noch unvorstellbar sind. Zur Raketenbasis auf dem Mars etwa oder zur Reise bis an die Grenze des Sonnensystems.
Regisseur James Gray zieht den Zuschauer mit suggestiver Kraft in seine Expedition hinein. Der Film ist spannend, die Reise ist kühn,  und als Fundament gibt’s einen coolen und nachdenklichen Brad Pitt,  der das Konstrukt der Story auf seinen starken Schultern trägt.
Als Astronaut soll Pitt also im All seinen verschollenen Vater suchen.  Der Alte, von Tommy Lee Jones mit ruhiger Entschlossenheit gespielt, tritt zu Beginn immer wieder in Rückblenden auf. Ob er noch lebt, ist freilich lange ungewiss. Und ob man ihn finden kann, erst recht. Schließlich ist das Weltall ziemlich groß.
Letztlich dient diese Suche, so abenteuerlich sie inszeniert ist, aber nur als Metapher für die großen  Fragen der Menschheit, nach diesem Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir?, auf das niemand eine plausible Antwort weiß. Der Astronaut Roy McCurdy  muss auf seiner Reise erkennen, dass ihn auch die  Milliarden Kilometer, die er zurücklegt, der Lösung dieser elementaren Rätsel nicht wirklich näherbringen. Aber „Ad Astra“, der Film , bietet ihm und den Zuschauern Anregungen in Hülle und Fülle, über solche Themen nachzudenken.  

Kinostart: 19. September 2019
Publikums-Chancen: Hoch
Gesamteindruck: Meisterliches Science-Fiction-Drama, in dem Abenteuer und philosophische Fragen brillant verknüpft werden.  Brad Pitt spielt großartig einen Astronauten, der alle Grenzen hinter sich lassen will.
 
 
Allein in der U-Bahn: Scarlett Johansson und Adam Driver in „Marriage Story“ © Filmfest Venedig

Marriage Story
Genre : Tragikomödie          
Regie: Noah Baumbach (USA)
Stars: Scarlett Johansson, Adam Driver, Laura Dern, Ray Liotta, Alan Alda
Venedig-Premiere: Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen
 
Die „Marriage Story“ von Nicole (Scarlett Johansson) und Charlie (Adam Driver) ist keine glückliche. Zwar überschütten sie einander, wie man zu Filmbeginn erfährt, mit Lobeshymnen und Komplimenten.  Aber die schönen Worte, die wie Liebeserklärungen klingen, sind nur zur Vorlage beim  Mediator gedacht. Denn Nicole und Charlie lassen sich scheiden. Anfangs geloben sie noch, ohne Streit auseinander zu gehen. Doch bald blüht  ein schillernder Rosenkrieg, der zusätzlich von gierigen Anwälten befeuert wird.
„Marriage Story“ ist eine melancholische Komödie von Noah Baumbach, der sich mit Filmen wie „Frances Ha“ den Ruf erwarb, der Chronist der Generation X zu sein – ein Nachfahre des Stadtneurotiker-Stils von Woody Allen. Auch in „Marriage Story“ hat er das passende Personal aus der Intellektuellen-Szene versammelt. Charlie ist ein recht erfolgreicher Theaterregisseur aus New York, Nicole eine Schauspielerin aus Los Angeles, die ihre beginnende Filmkarriere erst mal aufs Eis legte, um mit Charlie in New York zu leben und Theater zu machen. Gemeinsam sind sie Eltern eines kleinen Sohnes, um dessen Wohl bald herzhaft gestritten wird.
Trennungskomödien sind nun nicht gerade ein rasend neues Genre, aber Noah Baumbach gelingt es, dem Thema einige originelle Facetten abzugewinnen. Mit Laura Dern kommt eine Anwältin ins Spiel, die äußerlich schön wie ein Paradiesvogel und innerlich giftig wie eine Schlange ist. Sie kümmert sich um Nicoles Interessen, und um dem etwas entgegenzusetzen, heuert Charlie gleich zwei Advokaten an, gespielt vom sanften Alan Alda und vom rabiaten Ray Liotta.
Der Anwalts-Streit wird zu einem juristischen Gemetzel, aus dem man als Europäer nur zwei Schlüsse ziehen kann: Erstens sollte man es in den USA wohl tunlichst vermeiden, zu heiraten.  Und zweitens sollte man sich dort niemals scheiden lassen. Denn wenn man das tut, ist man nicht nur unglücklich, sondern auch pleite.
Der Film lebt auch vom hinreißenden Spiel seiner zwei Hauptdarsteller. Noah Baumbach hat für Scarlett Johansson und Adam Driver streckenweise ausgesprochen rabiate Dialoge geschrieben. Die Stars nehmen dieses Angebot dankend an und beflegeln  sich gelegentlich derart massiv, dass man als Zuschauer froh ist, im Kino zu sitzen und nicht im gleichen Zimmer wie das einstmals glückliche Paar.
Beide bekommen aber auch ausgiebig Gelegenheit, sich von der positiven Seite zu zeigen, wobei sich Regisseur Baumbach ein besonderes Schmankerl einfallen ließ. Johansson und Driver singen beide ein Lied aus Stephen Sondheims berühmtem Liebes- und Trennungs-Musical „Company“.  Sie trällert das schnippische „You Could Drive A Person Crazy“, er den emotionalen  Titelsong „Company“. Der gelingt Adam Driver derart gut, dass er in Venedig vom Kinopublikum rauschenden Zwischenapplaus bekam.
So wird „Marriage Story“ zur in vielerlei Hinsicht schillernden Tragikomödie, bei der sich das Publikum bedeutend besser unterhält als die Protagonisten auf der Leinwand. Denn die lassen sich ja scheiden. Leider bleibt das Vergnügen, diesen Film zu sehen, vielen potenziellen Zuschauern versagt. Denn „Marriage Story“ wurde nicht fürs Kino, sondern für Netflix produziert.

Kinostart: Vermutlich keiner.  Ab 6. Dezember auf Netflix
Publikums-Chancen: Gut
Gesamteindruck: Stark besetzte Dialog-Komödie, die beweist, dass man aus dem unerfreulichen Thema einer Scheidung auch viele Pointen herausholen kann