Filmfest Venedig 2019

Ein nervenschonender Auftakt

28.08.2019
von  Gunther Baumann
Der Eröffnungsfilm am Lido: Catherine Deneuve und Juliette Binoche in „La Vérité“ © Filmfest Venedig
Die großen Filmfestivals bemühen sich stets, zum Start etwas Besonderes zu zeigen. Beim 76. Filmfest Venedig (bis 7. September) ist die Eröffnungsgala besonders nervenschonend ausgefallen. Catherine Deneuve und Juliette Binoche liefern einander in der Familien-Elegie „La Vérité“ entzückend zickige Mutter-Tochter-Duelle.  Doch der Eröffnungsfilm hinterlässt keinen bleibenden Eindruck.  Das ist ungewöhnlich für ein Festival wie Venedig, das in den vergangenen Jahren immer zur Startrampe fürs Oscar-Rennen wurde. Auch dieses Jahr warten starke Filme auf ihren Einsatz. Mit großen Stars – und  mit Themen, die für Diskussionen sorgen werden.
Stars.  Scarlett Johansson und Adam Driver, Brad Pitt und Liv Tyler sind schon da. Erstere begleiten die Tragikomödie „Marriage Story“ von Noah Baumbach zur Weltpremiere an den Lido, letztere das Science-Fiction-Drama „Ad Astra“ von James Gray. Beide Filme und ihre Stars könnten Schlagzeilen machen, wenn im Winter die Awards Season in Hollywood beginnt.
 
Das gilt auch für einen Film wie „Joker“,  mit dem die Welt der Superhelden beim Festival Venedig Einzug hält: Joaquin Phoenix spielt den legendären Schurken, der Batman in legendäre Duelle verwickelt hat. Oder für einen Film wie „Seberg“: Kristen Stewart porträtiert die herbe Hollywood-Schönheit Jean Seberg, die 1979, nur 40 Jahre alt, unter tragischen Umständen in Paris starb.
 
Natürlich gibt es auch große Abwesende beim Filmfest Venedig. Zum Beispiel Roman Polanski: Der Regisseur schickt sein Dreyfus-Justizdrama „J’accuse“ mit Jean Dujardin und Louis Garrel an den Lido, ohne selbst mitzukommen. Wegen seiner Jahrzehnte zurückliegenden Sex-Affäre in den USA könnte er noch immer von einem Auslieferungsantrag bedroht sein.
 
Am meisten schmerzt in Venedig aber die Abwesenheit von Martin Scorsese. Der produzierte sein Mafia-Drama „The Irishman“  zwar für Netflix anstatt fürs Kino, hat aber mit den Topstars Robert De Niro und Al Pacino trotzdem einen der am meisten erwarteten Filme des Jahres gedreht. Wie es heißt, sei das Werk technisch noch nicht ganz fertig. Auch das Festival Toronto, das am 5. September beginnt, bekommt „The Irishman“ nicht. Die Weltpremiere ist für den 27. September beim New York Film Festival angesetzt.

Catherine Deneuve steht in „La Vérité“ stets im Mittelpunkt © Filmfest Venedig

Eröffnungsfilm. Im Vergleich zu solchen Kalibern  ist „La Vérité“ („DieWahrheit“), der Venedig-Eröffnungsfilm, ein Leichtgewicht. Der japanische Regisseur Kore-eda Hirokazu, der 2018 mit dem Sozialdrama „Shoplifters“ die Goldene Palme von Cannes gewann, hat als seinen ersten französischen Film eine Tragikomödie vorgelegt. Catherine Deneuve spielt eine extrem allürenhafte Filmdiva und Juliette Binoche deren im Umgang mit Maman leicht resignierte Tochter.
 
„La Vérité“ dreht sich darum, dass Catherine Deneuves Figur Fabienne gerade ihre Lebenserinnerungen herausgebracht hat. Doch rasch stellt sich heraus, dass zwischen den Buchdeckeln alles Mögliche an Anekdoten zu finden ist, aber keine Wahrheiten. Was die Autorin ganz in Ordnung findet, ihre Umwelt aber nicht.
 
Wer großes Schauspieler-Kino liebt, wird an den Wortgefechten zwischen Deneuve und Binoche („La Vérité“ ist ihr erster gemeinsamer Film!) gewiss viel Freude haben. Doch trotz zahlreicher gescheiter Gedanken und charmanter Dialoge ist dies kein Film, der einem lange im Gedächtnis bleibt.

 
Nina Hoss und Murathan Muslu im Drama „Pelikanblut“ © Filmfest Venedig

Orrizonti. Ganz anders verhält es sich mit dem Eröffnungsfilm der experimentfreudigen Orrizonti-Sektion des Festivals. Die deutsche Regisseurin Katrin Gebbe schuf mit „Pelikanblut“ eine wilde und ausufernde Familientragödie mit Elementen von Western und Voodoo-Zauber. Nina Hoss spielt die Chefin einer Pferderanch, die zusätzlich zu ihrer Adoptivtochter Niki noch ein zweites Mädchen adoptiert. Doch die kleine Raya, die aus Bulgarien stammt, stellt sich rasch als nicht zu bändigender  Quälgeist heraus - wofür sie nichts kann. Offenbar wurde die Fünfjährige schon bald nach der Geburt schwerstens traumatisiert.
 
„Pelikanblut“ erzählt eine Geschichte, die praktisch keinen Ausweg kennt: Bei neurologischen Untersuchungen stellt sich heraus, dass die Kleine auch physiologisch Schaden genommen hat.  Davon lässt sich die glorios aufspielende Nina Hoss als Adoptivmutter aber nicht beirren. Die Wege, die sie einschlägt, um Raya zu heilen, sind allerdings in der Lage, ihre Umwelt (und auch das Kinopublikum) schwerstens zu irritieren.
 
Fazit: „Pelikanblut“ ist ein kühnes Kinoprojekt, das im Arthaus-Bereich sicher seinen Weg machen wird. Zum Gelingen des visuell oft spektakulären Films trägt auch der Wiener Murathan Muslu viel bei, der hier einen deutschen Polizisten mit großem Herzen spielt: Es schlägt für die Kinder genauso wie für die Adoptivmutter, deren Herz er gern gewinnen würde.